Es wird Zeit, dass wir weiterkommen, deshalb hier der nächste Tag:
12. Tag
Kabli, Estland – Jurmala, Lettland – via Riga
175 km
Heute steht das nächste Land auf dem Programm: Lettland und die lettische Hauptstadt Riga. Viel Zeit werden wir nicht haben für die Stadt, aber es soll ein bisschen mehr werden als nur durchzufahren, deshalb herrscht ab 6 Uhr morgens bereits rege Aufbruchsstimmung im Camp.
Nina und ich rollen wie immer zusammen los, vor sieben haben wir den Platz verlassen und sind auf die kleine Straße Nr. 331 in Ufernähe zurückgekehrt, auf der wir gestern die letzten Kilometer entlang rumpelten, weiter Richtung Süden. Gepflegte Häuschen, ebenso gepflegte größere Gärten, mal lange Zäune oder Hecken, mal eine offene Rasenfläche mit Bäumen und Anwesen (wieder eine Erinnerung an ROAM) und immer wieder ein Ausblick nach rechts auf die Ostsee entschädigen für die doch durchwachsene Qualität des Belags.
Wir erreichen bald ein kleines Dörfchen, das nur daran zu erkennen ist, dass die Häuser nicht ganz so weit auseinanderstehen wie zuvor – es ist das letzte in Estland vor der Grenze. Die Grenze selbst ist von schengentypischer Dezenz, kein Schlagbaum, kein Grenzerhäuschen, keine Abfertigungsanlagen, nur eine auf einem Mast installierte Kamera und darauf folgend das Schild welches darüber informiert, dass wir nun auf lettischem Gebiet fahren, das ist alles. Ainazi, das erste Städtchen auf lettischer Seite sieht etwas weniger ferienhausmäßig aus und gibt sich sogar einen Hauch von Geschäftigkeit. Immerhin kommt hier die Hauptverkehrsstraße A1 wieder in Nähe der Küste, am Ortsausgang reihen wir auch wieder dort in den Verkehr Richtung Hauptstadt ein.
Das hört sich geschäftiger an als es ist; hier herrscht Autoverkehr, ist aber mit dem auf der deutschen A1 nicht im mindesten vergleichbar. Der Mangel an Gegenverkehr sorgt auch dafür, dass wir normalerweise mit ordentlichem Abstand überholt werden.
Aus irgendeinem Grund scheint Nina heute schwerer zu arbeiten im Quest; es schwänzelt in der Rückansicht deutlich. Ich fahre voraus, doch mein kleines bisschen Windschatten hilft nicht. Ich fahre etwas weiter voraus, um schon mal die wilden Tiere zu vertreiben, die dort vorn auf Nina und ihr orangenes Quest lauern könnten, doch auch das nutzt nichts. So passieren wir Salacgriva, die erste größere Stadt auf lettischem Gebiet; sie macht einen eher hinfälligen Eindruck auf mich, vielleicht auch schon geprägt durch die praktisch baufällige Brücke über den Fluss vor Einfahrt in die Stadt.
Hinter Salacgriva, eine lang gezogene leichte Steigung hinauf – die Straße ist übrigens von tadelloser Qualität (worauf ich auch deshalb aufmerksam werde, weil man links noch die bucklige alte baumgesäumte Straße erkennen kann) – kann ich im Rückspiegel kein Orange mehr erblicken, und halte an einer Bushaltestelle an. 7:15 morgens. Nina kommt kurze Zeit später, schnauft wie ein Walross, und meint, irgendetwas stimme nicht mit dem Quest, es trete sich wie mit schleifender Bremse. Wir inspizieren den Antrieb und stellen schnell fest, dass die Kette das Leertrumrohr hinten in den Umwerfer gezogen hat und die Kette dabei ist, das Rohr Stück für Stück aufzufressen. Es ist derart fest verkeilt, dass es durch einfachen Zug am anderen Ende nicht zu befreien ist. Jedenfalls nicht durch mich, die Lage erfordert eine mehrhändige OP. Nina wachsen hier – kein Wunder, sie hat ja unter dem Bremseffekt gelitten – Bärenkräfte zu, nach etlichem Würgen ist das Rohr frei, und wird anschließend mit Kabelbinder bei der Umlenkrolle nochmals fixiert.
Währenddessen ist ein Liegeradfahrer aus Gegenrichtung zu uns gestoßen: Vladimir auf einem selbstgebauten High Racer, der in Ainazi einen metallverarbeitenden Betrieb hat. Wir plaudern ein bisschen während Nina die Aufräumarbeiten nach erfolgreicher Befreiung des Rohrs übernimmt. Vladimir möchte auf weitere Fahrer warten bzw. denen entgegen fahren und dann die Tour bis Riga mitfahren. Er stellt sich vor, neben uns her zu rollen, und wird dann später lernen, das dies nicht so leicht ist (er kommt in Riga geraume Zeit nach dem Feld an).
Es geht ein klein wenig hügeliger zu in Lettland im Vergleich zum Vortag durch Estland, aber die Straße ist gut und die Stimmung auch bei Nina wieder deutlich besser. Allerdings machen sich trotz gutem Tempo und der vergleichsweisen Harmlosigkeit der Hügel (wenn man mal weiter runterschalten muss, haben die Letten zur Ablenkung ein Kirchlein mit Eichenhain in Nähe der Straße platziert, so dass man etwas zum Schauen hat) nun doch Kaffeedurst und Fehlen eines echten Frühstücks bemerkbar. Gegen halb zehn passieren wir ein Städtchen, es könnte oder müsste Saulkrasti gewesen sein, dessen Hügel wieder einmal die Fahrt mindern; genug Zeit nach einer Bäckerei oder einem Cafe Ausschau zu halten.
Wir finden eins in einem der typischen Ostblockbauten, die vergessen lassen wo man gerade ist, weil die überall gleich aussehen – ich war im September beruflich in Bulgarien und kam dort mit dem Rad durch ein Dörfchen, fand auf dem Dorfplatz praktisch eine Kopie unseres lettischen Frühstücksorts – nur war die bulgarische Variante völlig verlassen. Diese lettische Denkmal sowjetischer Baukunst vereinte ehemalige Bibliothek, eine Art Gesellschaftsraum, einen Bankautomaten und eine Bäckerei mit Shop und Sitzplätzen draußen. Kaffee und Gebäck waren hervorragend, jedenfalls hatten wir derart lange Zähne, dass es hervorragend schmeckte.
Von unserem leicht abseits der Straße gelegenen Kaffeebeobachtungsposten aus haben wir einen guten Blick auf das Tourgeschehen, interessant, wer hier mit Tunnelblick vorbei rauscht und wer nicht, die Einheimischen kratzen sich am Kopf über den unerwarteten Velomobiltrubel; man hat sich noch nicht zu Ende gewundert über die komische Kugel, die da eben über den Hügel kam und die Straße runter verschwindet, da kommt schon wieder so ein Ding, und da drüben an der Bäckerei, da stehen ja auch noch zwei. Es ist was los in Saulkrasti, an diesem Morgen.
Der weitere Weg nach Riga vergeht unspektakulär. Die Hauptstraße bleibt gut, der Verkehr nimmt zu, ist aber noch immer mäßig, immer noch eher waldig, aber ein wenig mehr Wasser zu sehen, und schon ist der Abzweig auf die P1 erreicht, die Nebenstraße, über die wir via Carnikava nach Riga fahren. Die Straße ist von minderer Güte, hat aber kaum Verkehr und man sieht ein wenig mehr.
Vor Riga geht es dann wieder auf größere Straßen, mehr Verkehr, allmähliche Verdichtung der Bebauung, große Industrieanlagen, zum Teil verlassen und in verschiedenen Stadien des Verfalls, bevor man richtig in die Stadt kommt.
Ich erreiche ein schönes Wohnviertel, schaffe noch die Umfahrung der Straßenbahnschienen, gerate aber kurz darauf unvermittelt auf gröbstes Kopfsteinpflaster; nie bin ich mit dem Quest auf schlechterer Straße gewesen als dort und suche, um den Sitz meiner Augäpfel in ihren Höhlen bangend, einen Zugang auf den Bürgersteig. Es geht vorbei an herrlichen Jugendstilgebäuden, groß und liebevoll renoviert, die den Palästen des Bürgertums in Wien oder Budapest in nichts nachstehen. Riga ist berühmt für seinen Reichtum an Jugendstil, es heißt, hier gebe es mehr davon zu bestaunen als irgendwo sonst in Europa. Man könnte stundenlang bleiben und nur schauen. Doch ich will ja zur Altstadt, arbeite ich mich deshalb durch die Straßen, den Track nun ignorierend der mich in die Kopfsteinhölle gelotst hatte, gerate dann fast auf die Brücke über die Düna vor der es keinen Abzweig mehr gibt – also: Warnblinker an und Rückzug, buchstäblich, des Quest zur zurückliegenden Kreuzung. Bewahre Harry vor dem gleichen Schicksal und fummle mich mit ihm durch ein paar Innenstadtgassen, über die wir dann doch zur Uferpromenade finden, wo wir uns mit Yoann und seiner Frau treffen wollen.
Immerhin, mittags sind Harry und ich da, wie vorgesehen. Einige der anderen sind auch schon eingetroffen, und in der nächsten halben Stunde werden es immer mehr. Unsere Gastgeber haben alles perfekt vorbereitet, wie schon in Kopenhagen. Getränke, Snacks stehen bereit – einfach toll. Im Schatten relaxen wir ein wenig, bevor die erste Gruppe zum geführten Gang durch die Altstadt aufbricht. Vladimir ist eingetroffen und hat auch einige Freunde benachrichtigt, so dass es an interessierten Besuchern nicht mangelt.
Der Rundgang durch die Stadt macht Spaß; die Altstadt der größten Stadt im Baltikum hat viel Charme, ist sehr belebt, überall sitzen die Leute draußen – kein Wunder, wieder einmal bestes Sommerweitter.
Gegen 14:30 geht es weiter, über die Düna und raus aus Riga Richtung Jurmala, dem Badeort mit dem langen Sandstrand, schon im 19. Jahrhundert ein beliebter Wohnplatz der Besserverdienenden.
Der Track hat es in sich, einmal aus der Stadt führt der direkte Weg über eine vierspurige Autostraße, vor der ich in der Planung gewarnt worden war, und deshalb einen Weg über Seitenstraßen in die Route aufgenommen hatte. Im Rückblick betrachtet, wären wir wohl besser einfach auf dieser Straße geblieben. Statt dessen werden wir auf dem tausendfach geflickten Teer der Nebenstraße ordentlich durchgeschüttelt, während wir uns 90° von unserer Richtung wegbewegen. Als es dann wieder links abgeht, damit wieder tendenziell in die richtige Richtung, endet der Teer und rumpliger Schotterweg beginnt. Ich stelle mich bereits auf empörte Kommentare am Abend ein. Während ich mich noch damit abfinde, endet der Schotter und ordentlicher Teer beginnt und führt uns durch ein Villenviertel. Na also.
Schließlich kommen wir vor der Brücke über den Fluss Lielupe wieder zur ursprünglichen Autostraße zurück. Wir müssen auf den Radweg, der hat questzerfetzende Bordsteinhöhe – habe vergessen wer von uns sich dort sein VM vermackelt hat.
Hinter der Brücke rollt es wieder gut und Jurmala begrüßt uns mit gepflegtem Baumschmuck, Rabatten und ein bisschen Badeortatmosphäre. Zu Beginn atmen die Vororte noch Kombinats-Ferienheim-Geist, Timmendorf auf sowjetisch, doch dann wird es eindeutig bürgerlich. Der Ort scheint im Wandel, jedenfalls dominiert die Sommerfrische-Dekoration.
Die Route ist im Grunde einfach – immer der Straße entlang, und dann irgendwann rechts ab zum Camping. Die einzige Komplizierung ist, dass ich auf einem Campingplatz reserviert habe, der uns dann auf seinem zweiten Platz, „etwas weiter die Straße runter“ untergebracht hat. Der Zielpunkt des Tracks liegt beim Hauptplatz, also fallen wir zuerst dort ein. Die hinter der Brücke etwas auseinander gerissene VM-Gruppe findet dort wieder zusammen; wir werden allerdings sogleich weiter geschickt und machen die Erfahrung, was „etwas weiter die Straße runter“ bedeutet am Ende einer Tagesetappe, auf der sich die letzten Kilometer irgendwie immer ziehen.
Heute ziehen sie sich besonders, der Ort liegt ohnehin schon langgezogen längs der Straße, endet dann irgendwann ohne dass der Campingplatz erreicht ist. Wald ist nun zur Rechten, zwischen uns und Ostsee, ab und an ein Campingplatz oder Abzweig nach rechts – jeder und jede könnte für uns relevant sein. Man kann also nicht wirklich Gas geben. Als ich schon denke, dass wir definitiv zu weit gefahren sind und nur weiterfahre, weil ich den Platz online ja schon gesehen habe, ist da ein Schild, und es geht tatsächlich rechts ab zum Camping Nemo.
Der Platz ist eigentlich gut, genug Raum für uns, es sind auch recht viele Wohnmobile da, es gibt es Art Strandbar, obgleich der Strand hinter dem Platz und einem kleinen Baumstreifen liegt und von der Bar aus keinesfalls zu sehen ist. Linkerhand liegen eine Reihe von Holzhäuschen, an deren Ausstattung und Bemalung seit ihrer Errichtung in den glorreichen Zeit der Sowjetmacht nichts geändert wurde – sie wirken wie aus der Zeit gefallen neben den Wohnmobilien westlicher Ruheständler mit ihrem Schnick und Schnack. Später wird eine Busgruppe russischer, zumindest russischsprachiger Touristen ihre Reisekoffer in die Häuschen schleppen; die Leute haben schwer zu schleppen, denn sie bringen auch sämtliche Lebensmittelvorräte mit.
Auf der anderen Seite der GBSR-Zeltstadt richtet sich eine ebenfalls russischsprachige Gruppe jüngerer Kleinbusreisender häuslich ein. Sie können ihr Vorzelt nur mit Hilfe ihres Ghettoblasters aufbauen, der sie mit technoider Musik ihrer Heimat zubrüllt, und das auch noch bis in die späteren Abendstunden fortsetzt. Dies und reichlich Wodka sind in den Augen unserer Nachbarn eben Ausdruck des guten Lebens.
Nach sechs bricht das Gros unserer Gruppe zu einem Strandlokal auf (der Strand des Platzes ist übrigens wirklich schön, wenn man einmal an der gigantischen ehemaligen Wasserrutsche aus verflossenen Zeiten, dem Wahrzeichen unseres Platzes vorbeigegangen ist). Dort gibt es einheimische Spezialitäten, die Atmosphäre am Meer ist großartig; ich höre später, es sei der schönste Abend der Tour gewesen, was Essen, Ort und Flair angeht. Ich bleibe mit Nina auf dem Platz, wir lassen uns dort von der Strandbar vollversorgen; schön ist, das wann immer jemand ein Gericht bestellt, ein dienstbarer Geist von der Strandbar zu einem 100 Meter entfernten Wohnwagen läuft; dort wird gekocht.
So geht ein Tag zu Ende, an dessen Ausklang nur noch die Hürde lauert, angesichts der Feierfreude der Russen einzuschlafen, denn morgen wartet die längste Etappe unserer Reise.