6. Tag
Linköping (S) – Stockholm (S)
233 km
Wieder ein Tag, der mit 233 km etwas länger wurde als die geplanten 217 km, aber aus gutem Grund. Heute haben wir ein wirklich schönes Stück Schweden vor uns, küstennäher und etwas felsig-steigungsreicher als vorher. Umso mehr bedaure ich, dass ich erst nach der Abfahrt bemerke, dass der Akku meiner Kamera leer ist; kein richtiger Film also für diesen tollen Tag, nur Bilder also und ein kurzer Clip mit dem Telefon.
Gegen 7 Uhr herrscht allgemeiner Aufbruch im Camp, schnell sind wir aus der Stadt und nehmen die Straße unter die Räder. Einige Kilometer auf einer größeren Ausfallstraße und dann rechts ab durchs Land. Mit fällt auf, wie aufgeräumt Schweden wirkt, alles erscheint wie akkurat arrangiert und gepflegt, an Häusern und Nebengebäuden blättert keine Farbe, die Architektur ist einheitlich auf dem Lande, die Zuwege sind ordentlich, die Wiesen proper, die Ackerflächen sowieso. Daran werde ich noch häufiger zurückdenken als wir durch Finnland fahren, wo wir auch aufgegebene Häuser und verfallene Gehöfte sehen, später im Baltikum und Polen sowieso. Schweden hat das alles nicht, jedenfalls nicht auf dem Land und dort, wo wir waren.
So freue ich mich an dem wunderschönen Morgen; Schweden unter Einfluß eines starken Skandinavienhochs ist wirklich sehenswert. Da muss man gewesen sein,um es nachvollziehen zu können. Wiesen, Felder und Wälder wechseln, vor mir rollt in einiger Entfernung Maarten mit dem Strada dahin. DieRouteführt an einem Golfplatz entlang, wo schon munter geputtet wird. Das Clubhaus liegt gut sichtbar an einer Kurve, warum also nicht abbiegen und einen Kaffee trinken? Es ist ja schon viertel vor neun. Ich biege ab, Maarten folgt. Selbstverständlich reicht man dort auch leicht schwitzenden Velomobilsten einen Kaffee, einen Keks dazu. Wir setzen uns in die Sonne vor dem Haus und sehen dem Treiben der Golfer zu. Ein älterer Herr kommt auf einem Brompton vorbei, um ein wenig zu plaudern, er ist ebenfalls auf Ostseereise, meint mit Blick auf das bisschen Gepäck vorn und hinten, er habe vielleicht ein wenig viel dabei, aber er fährt auch nicht so lang und weit jeden Tag.
Weiter geht es über ruhige Straßen, was auch daran liegt, dass in einiger Entfernung auch die Autobahn Richtung Stockholm verläuft, deren Betrieb man gelegentlich sieht, die aber nicht lärmt oder stört. Wer weiter fährt, fährt dort und lässt uns die herrliche Ruhe und entspannte Reise.
Gegen halb zehn ist bereits Norrköping erreicht, wo die Route durch die Stadt führt. Am Golfplatz waren die anderen scharenweise vorbeigefahren, hier überwiegt offenbar der Kaffeedurst, wie ich kurze Zeit später höre, als mich ein seriöser Herr mit erkennbar unsportlicher Lebenseinstellung an einer Kreuzung anspricht. Er sei leitender Redakteur der hiesigen Zeitung und auf der Suche nach uns, habe schon Reporter und Fotografen losgeschickt um Geschichten und Bilder einzusammeln. Seine Aufforderung, ich möge doch bitte warten damit er die beiden herbeitelefonieren könne, lehne ich freundlich ab; ich hätte noch was vor heute. Er bietet an mitzufahren, denn inzwischen ist Markus mit dem Milan vorbeigekommen und ich sage ihm es sei mit weiteren zu rechnen, die alle in meine Richtung fahren würden. Gut, sagt er, dann wolle er mich begleiten. „Damit?“ frage ich und weise auf sein Stadtrad. „Ja, damit.“ Er versteht nicht gleich, was an seiner Bemerkung witzig gewesen sein soll. Dann solle sein Team eben mit dem Auto hinterherfahren, entscheidet der Entscheidungsträger, lässt sich kurz die Route zeigen und wählt entschlossen die Nummer seiner Leute, erfährt dass diese in der Stadt schon eine kleine VM-Gruppe aufgebracht und abgelichtet hätten. Alles gut, ich kann weiterfahren.
Über einige Brücken geht es ab ins Land bis der Track mich auf eine Sackgasse führt mit Absperrung, hinter der sich ein Feldweg fortsetzt. Den brauche ich heute nicht, drehe um, bewahre Markus vor der gleichen Erfahrung und wir nehmen die Straße, auf der wir etwas später über den Feldweg auch gelandet wären. Der nächste Abzweig auf der Route geht nach kürzester Zeit ebenfalls in einen Schotterweg über und ich beginne, an meinem Routenplanungssinn zu zweifeln. Nach dem Schotter gestern heute schon wieder? Sei’s drum, wir fahren weiter, eine kleine Staubwolke produzierend. Bald darauf sehen wir wie sich von links ebenfalls eine kleine Staubwolke nähert bis beide Staubwolken vor einer Wegsperre aus Felsblöcken zusammentreffen. Nina, Kees, Martin und Jörg haben es tatsächlich geschafft, eine Schotteralternative zu unserer Schotterstrecke zu finden. Glücklicherweise kommt uns ein Quadfahrer entgegen, passiert die Steine auf der Seite und verschwindet – der Weg muss also irgendwo hinführen, wir also ebenfalls an der Seite vorbei und weiter auf dem Schotterweg, den das Quad gekommen war. Bald gelangten wir auf einen Hof und von dort weiter bis zur Hauptstraße (die wir mit ein paar Kilometer Umweg wahrscheinlich auch ohne Schotter und Wegsperren erreicht hätten) und die flotte Fahrt kann neu beginnen, das Feld zieht sich wie üblich auseinander und schon bald bin ich wieder mit Schweden allein. Die Route führt nun, mal wieder, an einem See entlang, der zum Bade bittet. Wenn man denn halten könnte. Zu allem Überfluss steigt die Straße nun an, was den Blick auf den See entschieden verbessert, die Badeoptionen dagegen nicht.
Doch die Schweden haben an alles gedacht und auf schöner Höhe über dem See eine kleine Haltebucht platziert, von der aus der Blick durch die Bäume übers Wasser schweifen kann. Natürlich stehen da schon fünf Velomobile als ich gegen halb 11 dort halte, die Fahrer sind den Abhang herunter geturnt und waten bereits im Wasser. Ich habe eher die Vorstellung von einem Badesteg im Kopf (man wird ja verwöhnt in diesem Land) und schaue mir alles von oben an. Gleich müssen ja die nächsten hier auftauchen. Tun sie auch, baden aber ebenfalls nicht. Markus hat in der Nähe einen Ort mit Supermarkt ausgemacht, da wollen sie jetzt hin, und nicht die fiese Steigung hoch, welche die Route als nächstes vorsieht. Ich habe Getränke genug an Bord und den Golfplatzkeks im Magen, gehe also lieber etwas klettern. Hügelig geht es weiter, aber immer wieder unterbrochen von längeren, eher flachen Strecken, so dass ich insgesamt zügig vorankomme.
Es wird mittag, als ich an einer Hügelkuppe linkerhand schon von weitem die typischen Farbspiele einer Velomobilgruppe ausmachen kann. Oben steht, umringt von der Hochgeschwindigkeitsfraktion der Tour, Mats, ein weiterer schwedischer Velomobilist, er fährt ein rotes Strada und wollte ursprünglich bis Helsinki, dann aber doch bis mindestens Stockholm mitfahren. Heute, stellt er jedoch fest, sei es einfach zu heiß für eine Fahrt nach Stockholm, gerade Mittag und schon über 30 Grad, in dieser Hitze könne man nicht Velomobil fahren; bis Nyköping, wo er wohnt und für uns den Mittagstisch reserviert hat, sei er dabei, aber dann, das müsse man verstehen, es sei nun wirklich zu heiß. Ich verstehe nicht ganz, aber das macht auch nichts.
Weitere Fahrer stoßen zu uns, Mats möchte am liebsten auf alle warten, es ist ja auch heiß. Auch Leif kommt an, er wollte ja auch bis Stockholm mitfahren, kam aber nicht recht aus den Federn heute morgen und musste so sein Disko-Mango weitgehend allein bis hierher pilotieren. Ich denke zurück an die Küchen-Dramen, die wir in Amerika immer dann ausgelöst haben, wenn alle zusammen irgendwo ankamen und essen wollten, kann also Mats mit für jedermann einsichtigen Argumenten überzeugen, dass die erste Gruppe doch schon losfahren kann. Außerdem habe ich selbst allmählich Hunger.
So geschieht es, und um halb eins und nach ca. 120 km rollen wir ins Zentrum Nyköpings ein. Das Lokal liegt in der Fußgängerzone, wo die 19 sauber aufgereihten Velomobile kurze Zeit später mächtig Eindruck schinden. Das Mittagessen ist gut und preiswert, wird praktisch kantinenmäßig ausgereicht, man rechnete mit uns, so dass in Rekordzeit die ganze Truppe vor dampfenden Tellern sitzt.
Mats und Leif sind nicht ganz zufrieden mit der Streckenwahl und werben beharrlich dafür, nachmittags die Küstenstraße zu wählen. Die Beharrlichkeit zeigt Wirkung im Team, zumal ich selbst in Abwandlung der Route einen Abstecher nach Tross vorgeschlagen hatte, ein bisschen weiter, aber es soll ein sehr schönes Städtchen sein, noch malerischer als das malerische Schweden, durch das wir ständig fahren. Über die Küstenstraße kommt man praktisch automatisch dorthin, ist zwar noch ein bisschen weiter, doch die Magie des Begriffs „Küste“ hat einige erfasst und sie wollen dort fahren. Später habe ich Berichte gehört, die den Streckenverlauf zwar im Grundsatz lobten, die Ostsee selbst sei aber kaum, und wenn dann nur sehr kurz zu sehen gewesen, so kurz, dass man besser schon vorher hätte wissen müssen, dass sie gleich zu sehen sein würde, um sie auch zu sehen.
Nach dem Essen überlasse ich also die Küstensträßler ihrem Schicksal und mache mich mit anderen auf der normalen Route auf in die Berge, denn es geht erst mal wieder ordentlich hoch, auch damit man einen vernünftigen Überblick über die noch immer nahe bei verlaufende Autobahn hat, für deren Anlage die Felskuppen jeweils weggesprengt worden waren. Rolling hills, aber mit Tendenz steigend. Das Auf und Ab wird mir verkürzt durch einen Rennradfahrer, den ich gerade überholte als er seine Atemwege befreite und mit seinem Schneuz nur knapp meine Haube verfehlte, was sein weiteres Schicksal besiegelte. Er konnte mich zwar am nächsten Berg überholen, wurde aber auf der Abfahrt trotz wilder Strampelei seinerseits wieder eingeholt und am Berg mit meinem Restmomentum klassisch deklassiert. Entgegen meiner üblichen Art konnte ich an diesem Anstieg natürlich keinen Druck rausnehmen, so dass der Vorsprung bergan wuchs und sich auf der folgenden Abfahrt ins Endlose erweiterte.
Auf diese Weise fahre ich einen ziemlichen Vorsprung auf Wilfred und Johann heraus, denen ich vorher versprochen hatte, ihnen den Abzweig nach Trosa zu zeigen. Baue mich an der entsprechenden Kreuzung also so auf, dass sie mich von weitem sehen können (denn es geht bergab), und rauche erst mal eine Zigarette. Nichts tut sich. Bei der zweiten Zigarette (rauche ja nicht während der Fahrt), kommt der Rennradler gefahren, biegt blick- und grußlos ab Richtung Trosa. Dann wieder lange nichts, bis die beiden endlich erscheinen. Wilfred will nun doch nicht nach Trosa, fährt also geradeaus, Johann biegt ab, ich folge. Der Rennradler muss im nächsten Ort abgebogen sein, schade, dem hätte ich sicher ein weiteres Mal das Hinterrad zeigen können, denn nun geht es mit Hügelchen zwar in der Tendenz bergab.
Trosa erreiche ich um 16:26, und es lohnt sich wirklich – ein Bilderbuchstädtchen, über-malerisch sozusagen. Alles ist herausgeputzt und wie von Carl Larsson selbst gemalt. Am Yachthafen gibt es das beste Eis der Stadt; ich bleibe eine Stunde in Trosa, breche dann mit Lars und einigen anderen auf, wir lassen die übrigen schnell im regen Verkehr Richtung Norden hinter uns, biegen dann wieder auf die ursprüngliche Route ein und schon ist der dichte Verkehr verschwunden. Über eine Brücke erreichen wir die Insel Mörkö, die zu durchfahren ist; am anderen Ende gibt es eine Fährverbindung zurück aufs Festland. Kostenlos. Mit Nina geht es weiter Richtung Stockholm, noch immer durch schöne Landschaft, bis die Hauptstraße erreicht ist. Von nun an nehmen wir den Radweg, die Straße ist stark befahren, es herrscht Feierabendverkehr. Nach der nächsten Abzweigung geht es zunächst ziemlich bergan, das ist auf dem Radweg entspannter. Wir bleiben dort bis sich der Weg am Ende eines weiteren längeren Anstiegs im Nichts verliert. Durch irgendwelche Wohngebiete wollen wir nicht gondeln, also auf die Auffahrt zur Schnellstraße und den Berg runtergesaust, um dann aber ziemlich herum zu suchen, bis wir die Auffahrt zu der Brück finden, die uns über die Autobahn und den nächsten Berg hoch auf unsere Route führt. Der Rest ist Großstadt und ziemlich bergig, ein bisschen nervig, weil mit etlichen Abbiegungen verbunden und irgendwie kreuz und quer verlaufend.
Hätte ich die Route nicht selbst gemacht, hätte ich mich oft gefragt, ob das wohl richtig sei, zum Ziel führen könne und wo in diesem Gewusel das Ziel überhaupt sei. Irgendwann sind wir dann plötzlich doch da, ein Campingplatz in der Vorstadt, am Hang über einem der Fjorde gelegen; ziemlich voll. Doch wir sind in Stockholm und da wollten wir hin.