GBSR 2014 – nacherzählt

Es wird Zeit, dass wir weiterkommen, deshalb hier der nächste Tag:

12. Tag
Kabli, Estland – Jurmala, Lettland – via Riga
175 km


Heute steht das nächste Land auf dem Programm: Lettland und die lettische Hauptstadt Riga. Viel Zeit werden wir nicht haben für die Stadt, aber es soll ein bisschen mehr werden als nur durchzufahren, deshalb herrscht ab 6 Uhr morgens bereits rege Aufbruchsstimmung im Camp.


Nina und ich rollen wie immer zusammen los, vor sieben haben wir den Platz verlassen und sind auf die kleine Straße Nr. 331 in Ufernähe zurückgekehrt, auf der wir gestern die letzten Kilometer entlang rumpelten, weiter Richtung Süden. Gepflegte Häuschen, ebenso gepflegte größere Gärten, mal lange Zäune oder Hecken, mal eine offene Rasenfläche mit Bäumen und Anwesen (wieder eine Erinnerung an ROAM) und immer wieder ein Ausblick nach rechts auf die Ostsee entschädigen für die doch durchwachsene Qualität des Belags.

Wir erreichen bald ein kleines Dörfchen, das nur daran zu erkennen ist, dass die Häuser nicht ganz so weit auseinanderstehen wie zuvor – es ist das letzte in Estland vor der Grenze. Die Grenze selbst ist von schengentypischer Dezenz, kein Schlagbaum, kein Grenzerhäuschen, keine Abfertigungsanlagen, nur eine auf einem Mast installierte Kamera und darauf folgend das Schild welches darüber informiert, dass wir nun auf lettischem Gebiet fahren, das ist alles. Ainazi, das erste Städtchen auf lettischer Seite sieht etwas weniger ferienhausmäßig aus und gibt sich sogar einen Hauch von Geschäftigkeit. Immerhin kommt hier die Hauptverkehrsstraße A1 wieder in Nähe der Küste, am Ortsausgang reihen wir auch wieder dort in den Verkehr Richtung Hauptstadt ein.
Das hört sich geschäftiger an als es ist; hier herrscht Autoverkehr, ist aber mit dem auf der deutschen A1 nicht im mindesten vergleichbar. Der Mangel an Gegenverkehr sorgt auch dafür, dass wir normalerweise mit ordentlichem Abstand überholt werden.
Aus irgendeinem Grund scheint Nina heute schwerer zu arbeiten im Quest; es schwänzelt in der Rückansicht deutlich. Ich fahre voraus, doch mein kleines bisschen Windschatten hilft nicht. Ich fahre etwas weiter voraus, um schon mal die wilden Tiere zu vertreiben, die dort vorn auf Nina und ihr orangenes Quest lauern könnten, doch auch das nutzt nichts. So passieren wir Salacgriva, die erste größere Stadt auf lettischem Gebiet; sie macht einen eher hinfälligen Eindruck auf mich, vielleicht auch schon geprägt durch die praktisch baufällige Brücke über den Fluss vor Einfahrt in die Stadt.

Hinter Salacgriva, eine lang gezogene leichte Steigung hinauf – die Straße ist übrigens von tadelloser Qualität (worauf ich auch deshalb aufmerksam werde, weil man links noch die bucklige alte baumgesäumte Straße erkennen kann) – kann ich im Rückspiegel kein Orange mehr erblicken, und halte an einer Bushaltestelle an. 7:15 morgens. Nina kommt kurze Zeit später, schnauft wie ein Walross, und meint, irgendetwas stimme nicht mit dem Quest, es trete sich wie mit schleifender Bremse. Wir inspizieren den Antrieb und stellen schnell fest, dass die Kette das Leertrumrohr hinten in den Umwerfer gezogen hat und die Kette dabei ist, das Rohr Stück für Stück aufzufressen. Es ist derart fest verkeilt, dass es durch einfachen Zug am anderen Ende nicht zu befreien ist. Jedenfalls nicht durch mich, die Lage erfordert eine mehrhändige OP. Nina wachsen hier – kein Wunder, sie hat ja unter dem Bremseffekt gelitten – Bärenkräfte zu, nach etlichem Würgen ist das Rohr frei, und wird anschließend mit Kabelbinder bei der Umlenkrolle nochmals fixiert.
Währenddessen ist ein Liegeradfahrer aus Gegenrichtung zu uns gestoßen: Vladimir auf einem selbstgebauten High Racer, der in Ainazi einen metallverarbeitenden Betrieb hat. Wir plaudern ein bisschen während Nina die Aufräumarbeiten nach erfolgreicher Befreiung des Rohrs übernimmt. Vladimir möchte auf weitere Fahrer warten bzw. denen entgegen fahren und dann die Tour bis Riga mitfahren. Er stellt sich vor, neben uns her zu rollen, und wird dann später lernen, das dies nicht so leicht ist (er kommt in Riga geraume Zeit nach dem Feld an).

Es geht ein klein wenig hügeliger zu in Lettland im Vergleich zum Vortag durch Estland, aber die Straße ist gut und die Stimmung auch bei Nina wieder deutlich besser. Allerdings machen sich trotz gutem Tempo und der vergleichsweisen Harmlosigkeit der Hügel (wenn man mal weiter runterschalten muss, haben die Letten zur Ablenkung ein Kirchlein mit Eichenhain in Nähe der Straße platziert, so dass man etwas zum Schauen hat) nun doch Kaffeedurst und Fehlen eines echten Frühstücks bemerkbar. Gegen halb zehn passieren wir ein Städtchen, es könnte oder müsste Saulkrasti gewesen sein, dessen Hügel wieder einmal die Fahrt mindern; genug Zeit nach einer Bäckerei oder einem Cafe Ausschau zu halten.
Wir finden eins in einem der typischen Ostblockbauten, die vergessen lassen wo man gerade ist, weil die überall gleich aussehen – ich war im September beruflich in Bulgarien und kam dort mit dem Rad durch ein Dörfchen, fand auf dem Dorfplatz praktisch eine Kopie unseres lettischen Frühstücksorts – nur war die bulgarische Variante völlig verlassen. Diese lettische Denkmal sowjetischer Baukunst vereinte ehemalige Bibliothek, eine Art Gesellschaftsraum, einen Bankautomaten und eine Bäckerei mit Shop und Sitzplätzen draußen. Kaffee und Gebäck waren hervorragend, jedenfalls hatten wir derart lange Zähne, dass es hervorragend schmeckte.

Von unserem leicht abseits der Straße gelegenen Kaffeebeobachtungsposten aus haben wir einen guten Blick auf das Tourgeschehen, interessant, wer hier mit Tunnelblick vorbei rauscht und wer nicht, die Einheimischen kratzen sich am Kopf über den unerwarteten Velomobiltrubel; man hat sich noch nicht zu Ende gewundert über die komische Kugel, die da eben über den Hügel kam und die Straße runter verschwindet, da kommt schon wieder so ein Ding, und da drüben an der Bäckerei, da stehen ja auch noch zwei. Es ist was los in Saulkrasti, an diesem Morgen.

Der weitere Weg nach Riga vergeht unspektakulär. Die Hauptstraße bleibt gut, der Verkehr nimmt zu, ist aber noch immer mäßig, immer noch eher waldig, aber ein wenig mehr Wasser zu sehen, und schon ist der Abzweig auf die P1 erreicht, die Nebenstraße, über die wir via Carnikava nach Riga fahren. Die Straße ist von minderer Güte, hat aber kaum Verkehr und man sieht ein wenig mehr.

Vor Riga geht es dann wieder auf größere Straßen, mehr Verkehr, allmähliche Verdichtung der Bebauung, große Industrieanlagen, zum Teil verlassen und in verschiedenen Stadien des Verfalls, bevor man richtig in die Stadt kommt.
Ich erreiche ein schönes Wohnviertel, schaffe noch die Umfahrung der Straßenbahnschienen, gerate aber kurz darauf unvermittelt auf gröbstes Kopfsteinpflaster; nie bin ich mit dem Quest auf schlechterer Straße gewesen als dort und suche, um den Sitz meiner Augäpfel in ihren Höhlen bangend, einen Zugang auf den Bürgersteig. Es geht vorbei an herrlichen Jugendstilgebäuden, groß und liebevoll renoviert, die den Palästen des Bürgertums in Wien oder Budapest in nichts nachstehen. Riga ist berühmt für seinen Reichtum an Jugendstil, es heißt, hier gebe es mehr davon zu bestaunen als irgendwo sonst in Europa. Man könnte stundenlang bleiben und nur schauen. Doch ich will ja zur Altstadt, arbeite ich mich deshalb durch die Straßen, den Track nun ignorierend der mich in die Kopfsteinhölle gelotst hatte, gerate dann fast auf die Brücke über die Düna vor der es keinen Abzweig mehr gibt – also: Warnblinker an und Rückzug, buchstäblich, des Quest zur zurückliegenden Kreuzung. Bewahre Harry vor dem gleichen Schicksal und fummle mich mit ihm durch ein paar Innenstadtgassen, über die wir dann doch zur Uferpromenade finden, wo wir uns mit Yoann und seiner Frau treffen wollen.
Immerhin, mittags sind Harry und ich da, wie vorgesehen. Einige der anderen sind auch schon eingetroffen, und in der nächsten halben Stunde werden es immer mehr. Unsere Gastgeber haben alles perfekt vorbereitet, wie schon in Kopenhagen. Getränke, Snacks stehen bereit – einfach toll. Im Schatten relaxen wir ein wenig, bevor die erste Gruppe zum geführten Gang durch die Altstadt aufbricht. Vladimir ist eingetroffen und hat auch einige Freunde benachrichtigt, so dass es an interessierten Besuchern nicht mangelt.
Der Rundgang durch die Stadt macht Spaß; die Altstadt der größten Stadt im Baltikum hat viel Charme, ist sehr belebt, überall sitzen die Leute draußen – kein Wunder, wieder einmal bestes Sommerweitter.

Gegen 14:30 geht es weiter, über die Düna und raus aus Riga Richtung Jurmala, dem Badeort mit dem langen Sandstrand, schon im 19. Jahrhundert ein beliebter Wohnplatz der Besserverdienenden.
Der Track hat es in sich, einmal aus der Stadt führt der direkte Weg über eine vierspurige Autostraße, vor der ich in der Planung gewarnt worden war, und deshalb einen Weg über Seitenstraßen in die Route aufgenommen hatte. Im Rückblick betrachtet, wären wir wohl besser einfach auf dieser Straße geblieben. Statt dessen werden wir auf dem tausendfach geflickten Teer der Nebenstraße ordentlich durchgeschüttelt, während wir uns 90° von unserer Richtung wegbewegen. Als es dann wieder links abgeht, damit wieder tendenziell in die richtige Richtung, endet der Teer und rumpliger Schotterweg beginnt. Ich stelle mich bereits auf empörte Kommentare am Abend ein. Während ich mich noch damit abfinde, endet der Schotter und ordentlicher Teer beginnt und führt uns durch ein Villenviertel. Na also.
Schließlich kommen wir vor der Brücke über den Fluss Lielupe wieder zur ursprünglichen Autostraße zurück. Wir müssen auf den Radweg, der hat questzerfetzende Bordsteinhöhe – habe vergessen wer von uns sich dort sein VM vermackelt hat.

Hinter der Brücke rollt es wieder gut und Jurmala begrüßt uns mit gepflegtem Baumschmuck, Rabatten und ein bisschen Badeortatmosphäre. Zu Beginn atmen die Vororte noch Kombinats-Ferienheim-Geist, Timmendorf auf sowjetisch, doch dann wird es eindeutig bürgerlich. Der Ort scheint im Wandel, jedenfalls dominiert die Sommerfrische-Dekoration.

Die Route ist im Grunde einfach – immer der Straße entlang, und dann irgendwann rechts ab zum Camping. Die einzige Komplizierung ist, dass ich auf einem Campingplatz reserviert habe, der uns dann auf seinem zweiten Platz, „etwas weiter die Straße runter“ untergebracht hat. Der Zielpunkt des Tracks liegt beim Hauptplatz, also fallen wir zuerst dort ein. Die hinter der Brücke etwas auseinander gerissene VM-Gruppe findet dort wieder zusammen; wir werden allerdings sogleich weiter geschickt und machen die Erfahrung, was „etwas weiter die Straße runter“ bedeutet am Ende einer Tagesetappe, auf der sich die letzten Kilometer irgendwie immer ziehen.
Heute ziehen sie sich besonders, der Ort liegt ohnehin schon langgezogen längs der Straße, endet dann irgendwann ohne dass der Campingplatz erreicht ist. Wald ist nun zur Rechten, zwischen uns und Ostsee, ab und an ein Campingplatz oder Abzweig nach rechts – jeder und jede könnte für uns relevant sein. Man kann also nicht wirklich Gas geben. Als ich schon denke, dass wir definitiv zu weit gefahren sind und nur weiterfahre, weil ich den Platz online ja schon gesehen habe, ist da ein Schild, und es geht tatsächlich rechts ab zum Camping Nemo.

Der Platz ist eigentlich gut, genug Raum für uns, es sind auch recht viele Wohnmobile da, es gibt es Art Strandbar, obgleich der Strand hinter dem Platz und einem kleinen Baumstreifen liegt und von der Bar aus keinesfalls zu sehen ist. Linkerhand liegen eine Reihe von Holzhäuschen, an deren Ausstattung und Bemalung seit ihrer Errichtung in den glorreichen Zeit der Sowjetmacht nichts geändert wurde – sie wirken wie aus der Zeit gefallen neben den Wohnmobilien westlicher Ruheständler mit ihrem Schnick und Schnack. Später wird eine Busgruppe russischer, zumindest russischsprachiger Touristen ihre Reisekoffer in die Häuschen schleppen; die Leute haben schwer zu schleppen, denn sie bringen auch sämtliche Lebensmittelvorräte mit.
Auf der anderen Seite der GBSR-Zeltstadt richtet sich eine ebenfalls russischsprachige Gruppe jüngerer Kleinbusreisender häuslich ein. Sie können ihr Vorzelt nur mit Hilfe ihres Ghettoblasters aufbauen, der sie mit technoider Musik ihrer Heimat zubrüllt, und das auch noch bis in die späteren Abendstunden fortsetzt. Dies und reichlich Wodka sind in den Augen unserer Nachbarn eben Ausdruck des guten Lebens.

Nach sechs bricht das Gros unserer Gruppe zu einem Strandlokal auf (der Strand des Platzes ist übrigens wirklich schön, wenn man einmal an der gigantischen ehemaligen Wasserrutsche aus verflossenen Zeiten, dem Wahrzeichen unseres Platzes vorbeigegangen ist). Dort gibt es einheimische Spezialitäten, die Atmosphäre am Meer ist großartig; ich höre später, es sei der schönste Abend der Tour gewesen, was Essen, Ort und Flair angeht. Ich bleibe mit Nina auf dem Platz, wir lassen uns dort von der Strandbar vollversorgen; schön ist, das wann immer jemand ein Gericht bestellt, ein dienstbarer Geist von der Strandbar zu einem 100 Meter entfernten Wohnwagen läuft; dort wird gekocht.

So geht ein Tag zu Ende, an dessen Ausklang nur noch die Hürde lauert, angesichts der Feierfreude der Russen einzuschlafen, denn morgen wartet die längste Etappe unserer Reise.
 
Zu ROAM gab es doch ein 200 MB PDF mit Berichten und Bildern. Vielleicht gibt es das irgendwann ja auch für GBSR. Braucht natürlich alles seine Zeit...
 
Mensch, Jupp, Dein neuer Avatar sieht ja gar nicht gut aus:( Was hast Du denn mit deinem Quest gemacht?
 
der ist schon alt, ein früheres Quest von mir nach einem unverschuldeten Unfall; zugleich mein Beitrag zur heutigen Smiley-Kultur
mal sehen, wann @Reinhard es in seine Sammlung aufnimmt ...
 
In der Weite des Landes muss Jörg sein Evo R so getreten haben, dass der im Hinterrad verbaute Nabendynamo überhitzte und das Rad blockierte. Es wird vom Fahrer „rausgerissen“, trotz großer Hitze des geplagten Teils. Zu reparieren ist da wohl nichts, berichten später auch andere Fahrer die Jörg mit seinem Rad antrafen.

dazu hier das Video von H@rry:

Ich bin dann mit einem eilig gekauften MTB Hinterrad die Tour zu Ende gefahren.
Mittlerweile hat den NaDy der Harald Winkler repariert - wie weis ich auch nicht.
 
Heute abend habe ich den ersten Teil des 13. Tages geschnitten, das wird ein Film mit zwei Teilen - habe mir die Bilder nochmal durchgesehen und fand, das Land hat eine Weite und Ruhe, da braucht man ein paar längere Kamerafahrten, um auch nur annähernd eine Vorstellung zu erhalten. Außerdem werden viele von Euch wahrscheinlich diesen Teil der Welt sobald nicht selbst erfahren, so dass ein paar cm Film mehr auch einen Bildungswert besitzen.

Zudem waren es bis zum Mittag schon rund 160 km -- da kommt schon viel Gegend zusammen.

Ich hoffe ihr seht es mir nach. @H@rry hat von diesem Tag 7 Filme gemacht, glaube ich, dagegen ist mein Material geradezu karg. Dafür habe ich die besseren Bilder von Nina ... und Jörg spielt eine tragende Rolle.

Ihr werdet es sehen, wenn ich Teil 2 geschnitten und die Geschichte zum Tag geschrieben habe.

Das kann allerdings noch ein paar Tage dauern.
 
Der dreizehnte Tag, eine Geschichte und zwei Filme

13. Tag
Jurmala, Lettland – Šilinė, Litauen
269 km


Zählt man die Kopenhagen-Kilometer und die anschließende Fahrt nach Växjö zusammen, dann war das der längste Tag, ansonsten ist heute der Tag mit der längsten Strecke. Es wird wieder warm werden und wir wissen nicht, wie gut die Straßen sein werden.
Dennoch hält sich die Aufregung im Camp in Grenzen. Zwar wird morgens um halb sieben schon gepackt, aber ohne Hektik; wir sind inzwischen eingefahren und die Distanz schreckt uns nicht.


Wie immer rollen Nina und ich zusammen los und nehmen bald ein erstes Stück richtig schlechter Strecke unter die Räder. Es rumpelt ordentlich, die Straße führt ziemlich geradeaus durch den Wald. Hochnebel trübt den Himmel ein, die Temperaturen sind noch angenehm kühl.

Nach einem Stück Hauptstraße mit dichterem Verkehr (na ja, dichter für hiesige Verhältnisse) biegen wir wieder auf kleinere Straßen ein und haben die Straße weitgehend für uns. Lettland ist flach, nicht polderflach, aber mit nur leicht angedeuteten Wellen. Ausgedehnte Felder, viel Getreide, Wiesen und kleinere Waldstücke wechseln sich ab und erlauben weite Blicke übers Land. Jetzt fällt mir auf, was hier anders ist: es wird kaum Mais angebaut, der bei uns allenthalben das Land zustellt (wahrscheinlich eine typische Trike- oder VM-Beobachtung, denn unsereinem nimmt der Mais jede Sicht). Ab uns zu durchqueren wir ein Dorf bzw. eine kleine Stadt. Die erste größere Ansiedlung (sie macht den Eindruck, als sei es eine frühere Garnisonsstadt; viele Wohnblocks an denen wir vorbeikommen, stehen leer) nehmen wir zum Anlass für eine kleine Pause.

Am Ortseingang biegen wir bei einer Tankstelle ein; es wird Zeit für Kaffee und ein paar Snacks, außerdem können wir Getränke bunkern. Wer weiss ob sich bis zur Mittagsrast noch eine weitere Gelegenheit zum „Tanken“ findet. Weiter geht es durch eine Landschaft wie bisher. Fast wie bisher: Zwischendurch kommen wir durch ein größeres Waldstück, die Hügel sind etwas ausgeprägter, es sieht ein wenig so aus als sei dies eine Art Nationalpark. Die Straße ist noch immer ziemlich rau, besser hält man sich in der Nähe der Mitte, dort finden sich nicht so viele eher nachlässig geflickte Schlaglöcher.

Um 9 Uhr ist der Himmel blau mit Schönwetterwolken und es wird wärmer. Das Land ist weit und die Stimmung gut, wäre da nicht diese Verkehrsschild, dass unten ein Stück schwarz geteerte Straße zeigt, die sich oben fortsetzt, ohne Farbe. Kenne so ein Schild nicht, und frage mich, was es bedeuten könnte. Lange muss ich nicht nachdenken, hinter der nächsten Biegung endet schlicht der Teer und die Straße führt als Schotterstrecke weiter. Neben mir donnert ein 40 Tonner über die Piste, ich kann die Vorderräder springen sehen. Hier wird die Veränderung des Belags schlicht ignoriert – später passiere ich ein Schild, das das Tempo auf der Marterstrecke auf 70 km/h begrenzt. Das allerdings nicht aus Mitleid mit Radfahrern oder Sicherheitsbedenken. Der Sattelzug hinterlässt eine Staubwolke, die von einem nachfolgenden PKW nochmal vergrößert wird. Ich halte erst mal an, damit sich der gröbste Dreck verziehen kann.

So 5-7 km rollen wir knurrend über den Schotter, dann wird klar, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung der nahenden Landesgrenze galt. Hier sagen sich Fuchs und Hase sowie zwei Grenzer in einem Kleinbus Gute Nacht. Wir nutzen den Grenzübertritt zu Fotos und wechselseitigen Beileidsbekundungen über die überstandene Tortur. Einige bleiben länger, so wie Lars, der direkt hinter der Grenze wieder einen platten Reifen bemerkt.

Der sich anschließende erste Ort in Litauen macht einen sehr ärmlichen Eindruck. An der Straße wird gebaut, irgendwie aber nicht richtig, die Häuser sind stark heruntergekommen. Das Dorf wirkt schmutzig. Dahinter macht Litauen landschaftlich dort weiter, wo Lettland aufgehört wird – weites Land, weite Blicke, endlose Straßen. In einem Dörfchen halte ich kurz nach 11 noch einmal an, um auf Nina zu warten. Der Dialog mit den Einheimischen verläuft etwas einseitig, sie reden viel, russisch, doch ich verstehe so gut wie nichts. Die Situation entwickelt sich wie immer: kaum treffen weitere Velomobile ein, steigt die Aufregung der Eingeborenen. Zwei alte Männer führen das Wort; sie scheinen den Vormittag schon zur Hebung ihres Alkoholpegels genutzt zu haben.

Weiter geht’s, wir haben ja noch einiges vor. Ich fahre jetzt meist vor, warte dann immer mal wieder, bekomme allmählich Hunger. Kurz nach 12 nähern wir uns Siauliai (Schaulen) und halten die Augen auf; es müssen ja schon einige Fahrer vor uns sein. An einer Kreuzung in der Stadt stehen Velomobile, am Eingang der Fußgängerzone – Jörn und Andy, einige andere sind schon ein Stück weiter in einem Lokal in der Fußgängerzone.

Mittagessen und Bier schmecken lecker, kein Wunder, wir haben ja schon über 160 km in den Beinen.


Der Nachmittag ist schnell erzählt. Während sich Harry und Jürgen vorn ein Langstreckenduell liefern, lassen wir es weiter hinten ruhiger angehen, genießen den Tag und die Landschaft. Sie ist wirklich alles andere als spektakulär, aber von besonderem Reiz, finde ich jedenfalls. Es ist still, weit, nicht leer aber irgendwie einsam, Felder und Straßen bis zum Horizont. Gäbe es da gelegentlich nicht diese ostmitteleuropäischen Dörfchen und die Storchennester, könnte man denken, irgendwo im Mittleren Westen der USA zu sein.

Am Straßenrand fallen nun immer häufiger Kreuze und Kruzifixe auf, zum Teil mehrere Meter hoch und mit reichen Schnitzereien, nicht selten mehrere nebeneinander. In Dörfern, die wir durchfahren, finden wir Kirchen von ortsuntypischer Größe und Pracht. Die Menschen hier scheinen sehr religiös zu sein. Nördlich von Schaulen hätten wir, auf einer anderen Route kommend, schon den „Berg der Kreuze“ besuchen können, ein eigenartiger Wallfahrtshügel mit tausenden von Kreuzen.

Auf dem letzten Drittel unserer heutigen Fahrt dürfen wir endlich mal wieder in kleinere Gänge schalten. Es gilt einige Hügelrücken zu überwinden, dadurch Höhenmeter gewinnen, dass man vorher in ein Flusstal runterfährt, um anschließend wieder raus und über den Hügel zu klettern.

Auf diesem Stück fahre ich mit Jörg zusammen, der im Evo R seine Knie schonen möchte und sich deshalb mit meinem Tempo zufrieden gibt. Meist fahre ich voraus und sehe zu, dass christbaumkugelrote Evo R nicht aus dem Rückspiegel zu verlieren. Ich muss in Jörgs Auftrag einen schattigen Platz auf einer Hügelkuppe finden, für ein letztes Päuschen.

Es findet sich, wir sitzen im Schatten oberhalb der Straße, man kann die nächsten 10 Kilometer Route schon gut einsehen, essen eine Banane und auch Nina stößt wieder zu uns. Gemeinsam finden wir schließlich, nach 269 km, den Eingang zum Campingplatz, der auf der Abfahrt runter zur Memelniederung liegt, nicht leicht zu erkennen, denn vom Platz selbst ist nichts tu sehen, er liegt ein paar 100 Meter über einen Waldweg abseits der Straße – ein schöner Platz, viel Platz, sattes Grün des dichten und weichen Rasens (was den Zelter freut), anständige Sanitäranlagen, und ein sehr hilfsbereiter Platzbetreiber, nebenbei oder hauptsächlich Imker, den nur die mäßige Besucherresonanz stimmungsmäßig niederdrückt. Wir sind das größte Ereignis dieses Sommers auf seinem Platz.

Stimmung hin oder her, jedenfalls lädt er das GBSR Pizzakommando in sein Auto und fährt Essen holen, trägt damit wesentlich zu einem gelungenen Abendessen bei, so wie Harry, der auf seinen tollen Tagesschnitt eine ganze Palette Bier springen lässt. Wir essen, trinken und quatschen so lange wie die Mücken uns eben lassen.
 
Das Ich so schnell gefahren bin an diesem Tag war kein Zufall. Dies war der laengste Tagesfahrt und da wollte Ich den schnellsten Schnitt machen. Ich habe bewusst schnelle und gemuetliche Tage abgewechselt und es so geplant das Ich fuer diesen Tag gut in Schuss war. Es war fuer mich ein wichtiger Teil des Reizes von dieser Tour.

Die schlechte Abschnitte haben mich weniger gestoert weil Ich mit die breite komfortable Shredda Reifen fahre. Ich war vielleicht deshalb auf die 5km Schotterpiste etwa zweimal so schnell unterwegs wie so manche andere Velonaut

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Vielleicht habe Ich auch die Zähne da fester aufeinander geklemmt, wer kann es sagen? So kam Ich dann kurz nach die Grenzueberquerung an Andy und Jürgen heran, die dann an die "Spitze" fuhren

.

Da war Ich eigentlich ganz zufrieden aber dann fuhr Jürgen spielerisch etwas vorne und tja, da wollte Ich mal sehen ob er blufft :) Also Ich hinterher und gleich auch ueberholen. Die Strassen waren lange und gerade. Was, nur eine Kurve in 50km? Es gab kaum Verkehr also anders wie in meine Heimat konnte Ich diese Kurve schoen abschneiden um keine Geschwindigkeit zu verlieren

Jürgen und Ich haben einander abgewechselt, das war ein riessen Spass aber sehr anstrengend um so lange durch zu halten. Beide fuhren wir am Limit. In Schaulen wollte Jürgen eigentlich gleich weiter fahren, aber Ich brauchte dann doch eine Pause und was ordentliches zu Essen. Als wir schon satt waren kamen erst andere Fahrer. Danach wurde es warm und hügelig und ist Jürgen von mir weg gefahren. Ich musste etwas Tempo herausnehmen weil mir zu heiss wurde. Zehn Minuten vor mir war er am wunderschönen Zeltplatz. Ich war aber spaeter los gefahren und hatte deshalb doch einen höheren Schnitt:

Distanz: 268km
Schnitt: 37.4km/h
Puls Schnitt: 147bpm
Stops: Zwei, fuer Kaffee und Lunch. (Pinkelpause brauchte Ich nicht, habe alles ausgeschwitzt).

Abends:
Unfreiwillig war Ich eingeteilt bei diejenigen die laufend zum Dorf zogen um uns etwas zu essen besorgen. Ich haette lieber etwas kommen lassen, aber was soll es, ein bisschen die Beine Strecken kann ja nicht Schaden. Wir haben uns zu viert durch dem Wald gekaempft, sind gerannt vor dem Bullen, aber das Fallgitter vom Burg war zu und das Dorf war bereits geplündert durch eine grossere Truppe hungrige Westeuropäer die mit Eisernes Ross schneller voran kamen :cry:. Zurueck ins Lager habe Ich mich satt gegessen an Unmengen Keckse und Bananen. Jetzt kann Ich auch darüber lachen :LOL:
 
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Weiteres Futter, ein neuer Tag, ein neuer Film

14. Tag
Šilinė, Litauen – Harsz, Polen
235 km


Heute machen wir das zweite Drittel voll; mit diesem Samstag ist die Tour nun zwei Wochen unterwegs. Heute werden wir auch den letzten der acht Staaten auf der Tour befahren, denn es geht nach Polen, genauer in den nordöstlichen Zipfel Polens, der bis 1945 den südlichen Teil Ostpreußens bildete. Bislang ist uns die deutsche Vergangenheit im Ostseeraum überwiegend im Zusammenhang mit der Hanse oder den Ordensrittern begegnet, nun befahren wir den Raum jahrhundertealter Rivalitäten zwischen Preußen, Russland, Polen und Litauen, die zumeist zulasten der letztgenannten beiden ausgetragen wurden.


Unser Honigtal Zeltplatzbetreiber hatte mitbekommen, dass wir am Ziel er heutigen Etappe einen Ruhetag einlegen werden. Warum das denn, hadert er, Ruhe habe er doch viel mehr zu bieten, und viel Platz, er sei doch nicht ausgelastet. Sein Jammern hilft nicht, wir haben einen Zeitplan und die Reservierungen sind gemacht.

Um 7 Uhr rolle ich mit Nina vom Platz, frühstückslos, den Waldweg entlang zurück zur Straße, den Rest der gestrigen Abfahrt ins Flusstal der Memel, und rechts ab auf die Straße nach Jurbakas. Leichter Nebel liegt über dem Tal, doch es wird ein sonniger und heißer Tag werden, das spürt man schon jetzt. Der Verkehr ist dünn, wo soll man hier auch hinfahren, in dieser Südecke Litauens nahe der russischen Exklave Kaliningrad?
Wir fahren auch nur hin, weil es dort eine Brücke über den Fluss gibt und wir weiter nach Süden wollen. Die andere Brücke läge deutliche weiter flussaufwärts, bei Kaunas; dort könnten wir auch über die E67 nach Polen weiterfahren, doch auf den Verkehr haben wir keine Lust. Es wäre auch weiter.

So bleibt Jurbakas. Am Ortseingang liegt ein schöner Kreisverkehr mit Tankstelle und Shop, wo ich Nina trotz ihrer Tankstellenallergie zu einem Frühstück überreden kann. Die Sandwiches unterbieten Ninas geringe Erwartungen, das muss ich zugeben, doch der Kaffee ist heiß und wir können uns draußen auf einen Sims setzen; unsere Velomobile blitzen in der Sonne vor uns. Wer von den anderen vorbeikommt, wird sie sehen, so dass sich kurze Zeit später ein Frühstücksgrüppchen zusammenfindet. Auch von Einheimischen wird die Tankstelle gern angefahren; es tankt allerdings fast niemand, alle kaufen schlechte Sandwiches und ebenso pappige belegte Baguettes.

Wer aus dem GBSR Fahrerlager schon Frühstück am Platz hatte, wird von uns auf seine Performanz im Kreisverkehr begutachtet. Für die S-Fraktion keine Herausforderung, doch das Quest-Lager unterscheidet sich schon in der Handhabung von rechts-links-rechts Kurve. Das Quest ist eben sensibler, taucht gern außen ein und hebt in der Gegenkurve noch lieber innen ab, da muss jeder selbst wissen, wie nah er sich im Grenzbereich bewegen möchte. So sind durchaus Unterschiede in Tempo und Technik zu verzeichnen, doch niemand wirft um, hier nicht und auch in den gefühlt 100.000 anderen Kreisverkehren nicht.

In Jurbakas selbst rüstet sich der Ort für den Markt am Flussufer, direkt neben der Brücke. Wir biegen einfach nur ab und fahren die Brückenrampe hinauf, die jenseits des Flusses gleich in den Anstieg aus dem Tal heraus übergeht. Auf der Brücke hat ein Bäuerchen mit Pferdefuhrwerk das Pech, uns zu begegnen. Zwar ist die Straße breit und wir sind bereits von Ferne sichtbar, doch das Pferd scheut wie noch fast jedes Pferd, dem ich im VM begegnet bin. Nun bin ich ja nicht allein, und das Pferd spränge am liebsten aus Geschirr und Hufeisen, so gern möchte es davonjagen. Die Beruhigung gelingt dem Bäuerchen nicht; die etwas weiter hinten fahrenden Velomobilisten sehen das Fuhrwerk im Galopp die Brücke hinabjagen, den Kutscher in wütender Verzweiflung.

So beginnt der Tag mit kleinen Auflockerungen des Gemüts. Das Tal hinter uns lassend holen wir gegen 8:15 auf der folgenden langgezogenen Geraden einen Radler ein, der nur zu gern rechts raus fährt, als er uns von hinten kommen sieht. Nur mit Badehose bekleidet (na ja, nicht nur, der Rest des Leibes ist über der Sonnenbräune mit Straßenstaub bedeckt). Der Mann ist mit einem ICE Trike und Anhänger unterwegs, schon einige Monate lang, so durch halb Europa und den Balkan getourt und jetzt auf großzügigem Bogen unterwegs nach Hause in – wo kann es anders sein – England, der Heimat vieler schrulliger aber origineller Typen. Wir lassen uns ein bisschen von seinen Erfahrungen und Plänen erzählen bevor die Fahrt weiter geht.

Die Landschaft südlich der Memel unterscheidet sich kaum von der Gegen, die wir gestern nachmittag durchfahren haben; ist vielleicht in bisschen hügeliger und immer mal wieder mit mehr Wald.
Unsere ursprüngliche Route haben wir auf Dieters beharrliche Intervention hin geändert. Ich hatte uns auf kleineren Straßen Richtung polnische Grenze geroutet, vor der dann wie schon vor der Grenze nach Litauen einige Kilometer Schotterstraße auf uns warten würden (einer von uns ist genau diese Route gefahren, es wären 500 m Schotterstrecke gewesen), und zwar deshalb, weil ich westlich keine andere Straße fand, die über die Grenze führte.
Dieter fand eine und hatte sie sogar Streetview gestützt eingesehen, also probieren wir das, denn sie hat neben Teer und einigen gesparten Kilometern einen eisenbahnhistorischen Höhepunkt zu bieten.

Jenseits von Siakiai jedenfalls werden die Straßen schmaler, rumpliger und rauer. Ich meine, es wäre Kudirkos Naumiestis mit seinen weißen Kirchtürmen gewesen, wo wir gegen 9:30 nochmal einen Tankstop im örtlichen Supermarkt einlegen, denn wir haben schon kräftig geschwitzt an diesem Vormittag. In relativer Nähe zur russischen Grenze arbeiten wir uns auf der kleinen 5103 vor nach Kybartai, dem Ort, an dem früher das west/mitteleuropäische Eisenbahnnetz auf das russische Netz mit seiner breiteren Spur traf. Hier musste also umgeladen oder umgespurt werden, was dem Flecken an der Eisenbahnstrecke Paris-Moskau seine Bedeutung gab.
Auch heute besitzt der Ort noch eisenbahntechnische Relevanz, allerdings eher provinziellen Zuschnitts, wenn auch mit strategischer Note. Über diesen Bahnhof versorgt Russland seine Enklave Kaliningrad mit allem was nötig ist; dort ist ja noch immer das Militär der größte Arbeitgeber und Wirtschaftsfaktor. Um die Bahnlinie hatte es in der Auflösung der Sowjetunion und dann wieder im Vorfeld des EU-Beitritts Litauens internationale Verwicklungen gegeben; Russland wollte einen geschlossenen Korridor durch Litauen, die Litauer lehnten das ab.
Wir schauen uns den Grenzübergang in die Enklave aus der Nähe an – da ist noch einmal eine richtige Grenze mit allem drum und dran zu besichtigen, eine EU-Außengrenze und Schengen-Grenze. Wegen der EU-Grenzregelungen sehen wir heute Vormittag verschiedentlich Patrouillenfahrzeuge der Litauer und der EU-Grenzschutzagentur, und profitieren zum Teil von den für diese angelegten nagelneuen Straßen entlang der Grenze.
Der Eisenbahnverkehr dort mit dem hektischen Betrieb westeuropäischer Bahnknotenpunkte wenig gemein. Die Schranken sind geschlossen, lange tut sich nichts. Die Einheimischen überqueren die Gleise zu Fuß, auf dem Trampelpfad neben den Gleisen. Dann fährt eine Lokomotive langsam von rechts nach links, etwas später dann von links nach rechts. Zuviel für Velomobilistinnen und –isten auf Ostseeumrundung. Wir nehmen ebenfalls den Trampelpfad, wir müssen weiter.

Hinter Kybartai treffen wir auf das beste Stück litauischer Straße und rauschen, begleitet, beäugt und fotografiert von den Grenzschützern Richtung Polen. Von russischem Gebiet sieht man nichts, nur Wald. Punkt 12 ist die Grenze Litauens erreicht; ein Schild begrüßt uns in der Republik Polendie schöne Straße mündet in einen ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit geteerten Feldweg. Wer hier nicht rasch runtergeschaltet hat – so wie ich, weil mit dem fotografieren des Grenzübertritts beschäftigt – hängt gleich an einem ersten kurzen Monsterhügelchen fest und muss hochdrücken. Es folgen noch ein paar weitere Anstiege dieses Kalibers, und es passt, dass ein paar km weiter auf einer sausenden Abfahrt über dieses Sträßchen diese auf eine größere trifft, die aber dank höheren Buschwerks nicht einsehbar ist, weshalb der ganze schöne Schwung in Wärme übergeht. Harry hatte schon den ersten Anstieg mit Topspeed genommen und war in den Hügeln verschwunden, Jürgen auch, ich warte also unten am Abzweig erst mal auf weitere Fahrer und Nina – mal sehen, wie die mit der jähen Verzögerung klarkommen.

Von nun an – noch so eine Zäsur dieses Tages – geht die Fahrt im Grunde immer nach Westen, die Rückreise nach Lübeck hat nun wirklich begonnen (Pedanten würden einwenden, dass die Rückreise nach Lübeck bereits mit den ersten Metern jenseits der Stadtgrenze begonnen hat und die verbleibende Strecke mit jedem weiteren Meter kürzer würde, aber so fühlt es eben nicht an, aber von nun an wird uns jeden Spätnachmittag die Sonne voll ins Gesicht scheinen, das fühlt sich nach Rückweg an.).

Im ersten polnischen Ort, in dem gleich drei Minimärkte an der Straßenbiegung konkurrieren, halten viele für eine Mittagsrast. Man kann draußen im Schatten sitzen, alle müssen ohnehin hier vorbei und die 90° Linkskurve nehmen, und unser Velomobilauflauf ist vermutlich das Großereignis des Jahres an diesem Ort, an dem sich scheinbar sehr viele Füchse und Hasen Gute Nacht sagen. So gammeln wir herum, bis ein nicht informierter Rennradler um die Kurve schießt und den folgenden Anstieg Richtung Ortsausgang angeht. Harry nimmt die Verfolgung auf, gibt ihm aber genügend Vorsprung, auch andere hat der Jagdinstinkt gepackt und sie springen in ihre Kisten. Ich bleibe noch, mir ist es zu heiß für solche Eskapaden. Ich warte auf Nina.

Wenn dies also die Rückreise ist, dann hat sie es in sich. Die Straßen sind eng (macht aber nicht viel, denn der Verkehr ist dünn), aber vielfach von derart grausamer Qualität, dass den S-Piloten die Augäpfel aus den Höhlen springen möchten. Dabei ist die Landschaft sehr schön, wir treffen auf alte Eichenalleen und fahren deshalb häufiger im Schatten, links und rechts gesäumt von ausgedehnten Getreidefeldern, auf den Kuppen oft ein wenig Wald und immer mal wieder ein Dörfchen. Die Fahrt nach Westen ist abwechslungsreicher als die 1,5 Tage nach Süden zuvor, die Hügel sorgen für ständigen Perspektivwechsel. Diese Gegend ist – wie im übrigen der größte Teil unserer Reststrecke – eine von den Gletschern der Eiszeit geschaffene Moränenlandschaft; das heißt, wer sich in Ost-West-Richtung bewegt, nimmt alle Erhebungen mit.

Doch das Gerappel zerrt an den Nerven. Ich weiss nicht, was mich mehr stört: dass die Schläge und Stöße auf den langsameren Anstiegen noch mehr bremsen als die Höhenmeter, oder dass auf den kleineren Abfahrten das Momentum durch den schlechten Belag keine wirkliche Freude aufkommen kann. Immerhin gibt es die ein oder andere Passage, wo der Belag anständig ist und sich der VM-typische Flow einstellen kann.

Wir erreichen Goldap in der Hitze des Nachmittags, alles neu und adrett, doch ich brauche keine Mittagspause. Weiter geht es auf kleinen Straßen, zur Abwechslung von recht guter Qualität, vor Goldap wie hinter Goldap. Das hält nicht lange und die Schüttelei beginnt aufs Neue. Ich bin derart eingeschüttelt, dass ich den Abzweig verpasse, irgendwann merke, falsch gefahren zu sein, mit Jörg drehe und zum Abzweig zurückkehre, dann noch eine Zeit brauche um zu ermitteln dass Nina schon durch ist und hinterher fahre. Die nun richtige Strecke ist genauso übel wie die falsche Route zuvor.
Endlich treffen wir in Banie Mazurskie auf ein EU-gefördertes Straßenbauprojekt; das anheimelnde Kopfsteinpflaster der Straße Nr. 650 wurde gerade eben von frischem Teer abgelöst und auf dem rollt es sich gut. Spätere Radtouristen werden sicher gern auf den EU-kofinanzierten Radweg nebenan ausweichen, der sich über viele Kilometer in Bau befindet; ich bin nur froh, dass er noch nicht fertig ist und wir ohne Unwillensbekundungen der Autofahrer die nicht so breite Straße nutzen können. Wird der Weg einmal fertig sein, wird man wahrscheinlich ständig angehupt und weggedrängt werden. Bei der Erneuerung der Straße hat man nämlich die ursprüngliche Breite weitgehend beibehalten, damit auch die alten Bäume stehen bleiben können. Das ist mir sympathisch; ich freue mich also am Übergangsstadium.

Einige km später biegt die Route jedoch wieder ab von der 650 und führt auf eine der Marterstrecken, die wir heute zur Genüge befahren haben. Schlechten Gewissens – immerhin habe ich die Route selbst entwickelt – aber gemildert dadurch, dass ich etliche Mehrkilometer auf mich nehme, und außerdem Jörgs Evo-R die weitere Tortour nicht zumuten kann, schlage ich vor, auf der Hauptstraße zu bleiben, bis Wegorzewo zu fahren und von dort auf der noch größeren 63 runter Richtung Gizycko. Jörg muss nicht überzeugt werden und wir rauschen dahin; die 650 fährt sich gut, etwas Zeit geht im Gefummel von Wegorzewo verloren; die 63 fährt sich noch besser, denn wir sind vorher nach Wegorzewo hochgekurbelt und donnern jetzt auf breiter Straße im Verkehr runter zur Seenplatte. Dabei scheuen wir keinen Umweg, um auf der 63 bleiben zu können, wo wir nun schon mal in Fahrt sind. Souverän verschenken wir etliche Kilometer Abkürzung in Ogonki, hauptsächlich weil wir mit über 60 km/h am Abzweig nach Harsz vorbei rauschen, doch wer weiss wie diese Strecke beschaffen gewesen wäre ... so biegen wir erst in Pozezdrze ab, folgen von dort der vorgesehenen Route zum Campingplatz und gesellen uns zu den bereits angekommenen Fahrern, die auf der Terrasse des Platzrestaurants ihre Ankunftsbiere genießen.
Auch dieser Tag ist gut geschafft und bis in die späteren Abendstunden hallt die Terrasse wider von den Begebenheiten des Tages, derweil die masurischen Mücken in Blutrausch verfallen.
 
auch der Ruhetag in Masuren verdient einen kleinen Bericht und kurzen Film, hier ist beides:

15. Tag
Ruhetag in Harsz, Polen
49 km


Nötig ist er nicht, dieser Ruhetag, willkommen dagegen schon; wieder einmal ein Morgen ohne das Zelt abbauen und alles zusammen packen zu müssen, wieder einmal ein Morgen ohne Abfahrtsplan oder festes Tagespensum. Und weil auch das Wetter von ein paar Regentropfen abgesehen wieder angenehm bleibt, steht einem entspannten Ferientag nichts entgegen.


Zwar liegt der Campingplatz in völliger Ruhe auf dem Land und hat auch einen schönen Badesee dabei, die Terrasse bietet preiswert Bier und Warmes, selbst das Frühstück ist nicht schlecht, doch ganz ohne velomobile Fortbewegung möchten wir heute nicht bleiben.
Im Vormittag bricht eine Gruppe auf ins rund 20 km entfernte Gizycko, dem Hauptort an der masurischen Seenplatte. Wir wollen doch mal sehen, wie in dieser Abgeschiedenheit ein Hauptort aussieht. Die Fahrt dahin steigt leicht wellig an bevor die Straße am Stadtrand wieder abfällt; die eingefahrenen Höhenmeter werden also zumeist weggebremst statt ausgefahren. (Dafür wird die Rückfahrt besser, man klettert aus der Stadt raus und noch einen Hügel hoch, danach geht es in Wellen wieder runter – schnelles Fahren, das soviel Spaß gemacht hat, das ich ganz vergesse, die Kamera einzuschalten).

Gizycko mag Hauptort sein, doch es ist nur ein Städtchen, lebt zwar erkennbar vom Tourismus, ohne jedoch rummelig zu sein. Masuren eben; wir werden einen Tag später noch polnisches Riminifeeling erleben.
Am Seeufer hat man kräftig investiert und eine Marina geschaffen, mit Segelschule und einem pompösen Café-Restaurant mit postmoderner Anmutung, auf dessen Terrasse sich unsere Expedition zum Essen niederlässt. Man könnte auch an einem Stausee in der Eifel sein, nur dass hier alles neuer ist.

Auf dem Weg zurück erledigen wir unsere Einkäufe für den Tag und nehmen den nun rasanten Rückweg unter die Räder. Runde 10 km die Hauptstraße entlang jagen, dann wieder 6-7 km über kleine Straßen und durch die Dörfer und wir sind zurück.

Die Terrasse der Campingplatz-Cafeteria bleibt am heutigen Tag fest in der Hand der Velomobilisten; einige nehmen sich in ihren Upload- und Online-Orgien kaum Zeit fürs Essen oder die auf dieser Tour üblichen Mengen isotonischer Flüssigkeit. Wieder andere versuchen ein Nickerchen am hellichten Tag, das von Dritten mit Gebrumm und Windböen beendet wird, welche von der tourbegleitenden Drohne ausgehen. Statt aus der Höhe zu filmen, wie anmutig die GBSR-Velomobile durch Ostseelandschaften gleiten, wirbelt die Drohne sämtlichen Staub des Campingplatzes auf und in die verquollenen Augen der im Mittagsschlaf gestörten Radtouristen.
Ich gehe lieber schwimmen.

Für den Abend bietet sich im Grunde nur das platzeigene Lokal an; am nächsten Morgen werden wir feststellen, dass es sich wahrscheinlich auch gelohnt hätte ein Dörfchen weiter Richtung Westen nach Alternativen zu schauen. Doch dies ahnen wir nicht, essen und trinken ausgedehnt, plaudern angeregt im entspannten Modus dieses Ruhetages, während sich in den Wiesen ringsum Tausende allmählich masurischer Mücken zum Abflug rüsten, nur eins im Sinn: Menschensaft, mit Alkohol angereichert, das wird ein Fest für die Sinne ...
 
auch der Ruhetag in Masuren verdient einen kleinen Bericht und kurzen Film, hier ist beides:
... Wieder andere versuchen ein Nickerchen am hellichten Tag, das von Dritten mit Gebrumm und Windböen beendet wird, welche von der tourbegleitenden Drohne ausgehen. Statt aus der Höhe zu filmen, wie anmutig die GBSR-Velomobile durch Ostseelandschaften gleiten, wirbelt die Drohne sämtlichen Staub des Campingplatzes auf und in die verquollenen Augen der im Mittagsschlaf gestörten Radtouristen. ...

Wann und wo kommen wir in den Genuss der Aufnahmen von der Drohne oder der Filme und Bilder des mutigen und furchtlosen Lenkers des Sprinters? :):):););):barefoot:

Jupp, vielen Dank für den beeindruckenden Bericht, weiter so :):)
 
... Bilder des mutigen und furchtlosen Lenkers des Sprinters? ...

@KLKöln: Klaus – Bilder aus der legendären Sprinterperspektive gibt es hier, Filme schimmeln wahrscheinlich auf irgendwelchen Sticks

1. Woche:
https://plus.google.com/photos/ Karspeedde/albums/6034048806753811969
2. Woche:
https://plus.google.com/photos/101331914098610268069/albums/6036166988421813073
3. Woche:
https://plus.google.com/photos/101331914098610268069/albums/6038929366378438529

als Häppchen mal eins aus Drohnenperspektive, aufgenommen in Helsinki:
1405345796219.jpg
 
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