Die gegenwärtige politische Situation könnte uns sehr dabei helfen. Unter dem Druck von Fridays for future und anderen Organisationen erleben wir bei den politischen Parteien zur Zeit einen Wettstreit für den Umbau in unserer Gesellschaft und es scheint sich tatsächlich etwas zu tun.
Sehe ich ganz ähnlich. Es werden ja schon Horrorszenarien an die Wand gemalt, falls Frau Baerbock Kanzlerin wird, gegen die meine Zukunftsvisionen vom digitalen Neo-Biedermeier durch diese Corinna Kindergarten sind. Das kommt aber hauptsächlich dadurch, dass die Leute gar nicht wissen, was für tolle Alternativen es zum Auto gibt. Auf Facebook ging es vor kurzem erst wieder um stadtplanerische Überlegungen in Bremen, da schrieb jemand sinngemäß dazu, wo denn die Einzelhandelskunden herkommen sollten, etwa aus Hamburg mit dem Fahrrad? Mein erster Gedanke war: "Warum nicht?"
In erster Linie müssen wir aus den Köpfen der Autofahrer (damit meine ich nicht die Leute, die Auto fahren, sondern die, die sich nichts anderes vorstellen können) rausbekommen, dass Fahrrad entweder alte Baumarktmühle, schlecht eingestelltes Trekkingrad mit Leiste als Sattel oder der Teil der Rennradler oder Kuriere sind, die sich an keine Verkehrsregel halten. Wir müssen dazu kommen, dass die Leute nicht sagen: "Ich muss irgendwohin, also nehme ich das Auto", sondern, dass sie darüber nachdenken, was denn effizient wäre, um die Aufgabe komfortabel auszuführen.
Aus welchen Gründen fahrt ihr Velomobil oder habt ihr Interesse bekommen ?
Ich habe noch nie ein Auto besessen, benötige auch keins. Durch Maskenpflicht ist ÖP(N)?V für mich unbenutzbar geworden, aber ich möchte weitestgehend wetterunabhängig im Alltag mobil sein. In Freizeit und auch zum einkaufen - möchte meinen Wocheneinkauf komfortabel wegschaffen. Ich mache das derzeit mit dem Trike mit Anhänger, aber ein VM steht immer noch ganz weit oben auf meiner "haben wollen" Liste wegen des Wetterschutzes, auch wenn es durch meinen Umzug und einige Anschaffungen, die deswegen noch kommen, nach hinten gerückt ist.
Welche Rolle spielt die Nutzung des V. für Nachhaltigkeit und das Gefühl, den CO2-Fussabdruck zu verbessern ?
Ich gehe da nicht ideologisch ran, ich schaue nicht, ob dies oder jenes weniger CO2-Fußabdruck hat. Als Informatiker und Technikfreak gehöre ich so oder so zu den besten Kunden des lokalen Energieversorgers. Allerdings habe ich es auch nicht so gern, wenn irgendwas nur rumsteht. Das ist bei mir der Hauptgrund, kein Auto zu haben. Es verschlingt einen Haufen laufende Kosten, steht meist nur rum und wird nicht wirklich ausgefahren, da ich ein Auto auch absolut nicht als Hobby sehen würde, sondern als Gebrauchsgegenstand. Ein VM wäre ebenso ein Gebrauchsgegenstand, so wie es mein Trike und mein Up jetzt auch sind. Den Fahrspaß nehme ich gern mit und freue mich auch, dass ich auch etwas für den Körper tue - selbst, wenn ich mir beim treten helfen lasse.
Ist für euch das Velomobil ein Beispiel für eine gelungene Nachhaltigkeits-Transformation und welches Potential seht ihr in Zukunft für die Verbreitung der Velomobile aus diesem Grund ?
Aber ganz massiv! Ich gehe sogar so weit, dass Velomobil und Velocar die eigentlichen Verkehrswendefahrzeuge sind, noch mehr als die Lastenräder, die jetzt überall so gehyped werden. Grund: Bei VM/VC hat man ein Dach über dem Kopf. Das Killerargument vieler Autofahrer gegen das Fahrrad. Lastenräder sind auch keine schlechte Sache, aber der aktuelle Hype eher ein Produkt nicht fertig zu Ende gedachter Gedanken. Die Intention ist bei vielen, die sich eins anschaffen, Lasten- und Kindertransport - was mit einem VM mit Anhänger genau so gut geht, und dann ist auch noch der Fahrer vor den Elementen geschützt.
Die deutsche Automobilindustrie steht vor einem riesigen Umbruch und unsere Wirtschaft sucht händeringend nach start-ups, die neue Produkte und Produktideen generieren, die als Ersatz für Automobile geeignet sind. Warum taucht das Velomobil in der Diskussion um eine verkehrspolitische Wende nie auf ?
Ich glaube zum einen, die Autoindustrie schmeißt Nebelkerzen. Die wollen eigentlich nicht, dass das klassische Auto durch irgendwas anderes ersetzt wird.
Zum anderen kommt das Problem aber auch aus der VM-Community selbst. Wenn man hier das Forum querliest, geht es doch primär ums basteln, tunen, tüfteln und "Wie mache ich meine Schüssel noch 1 km/h schneller". Ich stelle mir manchmal die Frage, wann die Leute hier mal *fahren*.
Wenn jemand von einem wie oben umrissenen Nutzungsprofil kommt und anmerkt, dass ein Milan SL jeder gestempelten Briefmarke auf der Straße persönlich "Guten Tag" sagt, oder, dass man mit einem bus-gleichen Wendekreis in der Innenstadt um keine Kurve rumkommt, gesagt bekommt, dass das doch irrelevant sei, weil diese Fahrzeuge eben als Straßenfahrzeuge zum zügigen außerorts / auf der Fahrbahn fahren konstruiert seien, dann gibt es eben entsprechend weniger Luete, die trotzdem so von der Sache überzeugt sind, und recherchieren, was man trotzdem machen kann.
Zugegeben, da hat sich bereits etwas geändert. Die Velocars haben mittlerweile hier auch ihren Platz, und ich habe im Vorfeld schon viel mit
@henningt und
@Kid Karacho geschrieben, was man machen könnte, und weiß mittlerweile, dass man ein DF (XL) ganz vernünftig großstadt - und alltagstauglich machen kann. Mango, Alleweder, Leitra und Leiba gibt es auch noch. Aber dafür muss man schon einige Recherchearbeit in die ganze Sache hinein stecken.
Dazu kommt noch, dass es VM meist nur von Spezialhändlern gibt, die man erstmal suchen muss, und nicht jeder Kunde Service und Reparaturen selbst macht. Wenn Otto Normal meint, "ich müsste mal mein Auto stehen lassen", dann geht der in den nächsten ZEG-(BiCo/vsf/vitbikes/...)-Laden und nimmt da ein Fertigpedelec mit. Wenn er dann doch ein VM irgendwo weit weg kauft und es mal "aua" hat, dann ist meist das Problem, dass der Händler während der Garantiezeit keine Fremdkäufe repariert und inspiziert. Ist für mich das größte Hemmnis und der Grund, warum ich voriges Jahr nicht gleich ein VM, sondern ein HP Scorpion gekauft habe. Da ist der Laden einmal die Straße runter, und wenn etwas ist, das über "keine Luft mehr" oder "Plattfuß" hinaus geht, dann bringe ich es hin und sage "Macht mal". Ich habe zwar hier in Bremerhaven mittlerweile auch eine unabhängige freie Fahrradwerkstatt gefunden, wo man mir bereits sagte, man würde mir auch ein VM reparieren, aber diese zusätzliche Such-Arbeit macht heute keiner mehr.
Ein ziemlich starkes Kriterium ist auch der Preis. Machen wir uns nichts vor, wer ein Auto ersetzen möchte, will ein Pedelec. Und kaum einer nimmt sonst Schwarzbrot-Ausstattung. Wenn ich mir VM konfiguriere und dann die Weberkupplung, den Motor und genug Akkus für 150km realistische Reichweite dazu rechne, liege ich immer ziemlich treffsicher zwischen 11000 und 13000 Euro (habe ich für Mango Tour, Hilgo, DF XL und Alleweder 6 gemacht). Ich weiß zwar, wie dieser Preis zustande kommt und dass der auch gerechtfertigt ist, aber der typische Autokunde schreckt da erstmal zurück, denn man erhält dann einen Einsitzer, bei dem man auch noch treten muss, mit Motor gerade mal 25 km/h schafft. Dass man dafür keinen Führerschein braucht, ist für Leute, die vom Auto kommen, also schon einen haben, unerheblich. Dagegen kann man zu Dacia gehen und erhält für 7000 Euro ein vollwertiges Auto, in dem vier Personen wettergeschützt mitfahren können. Und die Dacias sind keine schlechten Autos.
Vielleicht sollte man "etablierte Autofahrer" eher am Rande betrachten und eher den Nachwuchs "infizieren". Ich setze ja schon immer den Kindern Flöhe ins Ohr, wenn die mein Scorpion toll finden. Aber die VM und VC müssen auch dringend aus der "Nerd Bubble" raus, in denen sie jetzt noch sind. Es sollten mehr normale Fahrradläden solche Fahrzeuge verkaufen oder zumindest den Service nicht verweigern. Das Thema Pedelec sollte weniger stiefmütterlich betrachtet werden. Vielleicht wäre es ratsam, die etablierten, verbreitetsten Modelle (z.B. DF, Quest) auch mit verbreiteten Motoren (z.B. Shimano STEPS) anzubieten, da können viele Fahrradläden Service für machen und viele Otto-Normal-Fahrradkunden rollen auch erstmal die Augen, wenn sie "BAFANG" oder "TONGSHENG" hören.
Last but not least ist auch die Wartezeit ein Argument. 3-6 Monate nach Bestellung ist schon eine Ansage, auf einige Modelle wie QV wartet man noch länger. OK, aktuell erreichen auch normale Schwarzbrot-UP diese Zeiten. Aber das war nicht immer so. Hier sollte ganz an vorderster Front dran gearbeitet werden.
Ich habe das an anderer Stelle schon oft ausgeführt, aber wenn VM / VC signifikant zur Verkehrswende beitragen sollen, dann brauchen wir wettbewerbstaugliche Fahrzeuge, die vor allem auf Alltagstauglichkeit ausgelegt sind. Eine Standardplattform, die am Fließband hochautomatisiert auf Masse hergestellt werden kann, unterstützt durch Fahrradhändler-Verbände wie die ZEG.
Ein VM, das noch halbwegs auf innerstädtischen Radwegen fahren kann und auch die meisten Wurzelaufbrüche und Bordsteine mitnimmt, also mit einer nennenswerten Bodenfreiheit und einem Wendekreis, der nicht zu ausladend ist, auszustatten mit Anhängerkupplung, aber auch genug Gepäckstauraum "ab Serie", motorisierbar mit einem etablierten Motor (Bosch ActiveLine Plus, Shimano STEPS E6100 oder höher) und einem Preisbereich von 5000 Euro (HPV) bis 7000 Euro (Pedelec), am Fließband produziert, und beim Brot&Butter-Fahrradhändler Probe zu fahren und auch zu kaufen, würde da schon einige Steine ins Rollen bringen.
Auch sollte die Lastenradförderung, die es in bestimmten Bundesländern und Kommunen gibt, ausgeweitet werden und nicht nur Lastenräder einbeziehen, sondern betrachten, wieviel Auto man mit dem geplanten Fahrrad ersetzen kann.