Velomobil Probefahrten: Velayo, DF-XL, Strada, Quest Carbon, Milan SL

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Eines vorweg: Ich beanspruche keineswegs, ein endgültiges Urteil über irgend eines der von mir getesteten Modelle fällen zu können. Ich habe mich aber trotzdem dafür entschieden, meinen Entscheidungsprozess hier wenigstens in groben Zügen zu veröffentlichen, weil ich von ähnlichen Berichten sehr viel gelernt habe. Ich vertraue darauf, dass alle, die das lesen, durchaus in der Lage sind zu beurteilen, an welchen Stellen sie meine Eindrücke nachvollziehbar finden und an welchen sie zu anderen Schlüssen kommen. Wichtig war mir, dabei klar zu machen, welche Erfahrungen ich habe (und welche eben nicht) und wo immer möglich, nicht nur einen allgemeines Urteil abzugeben, sondern auch hinzuzufügen, welche Beobachtungen dabei eine Rolle gespielt haben.
Fahrräder haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt, ich bin zum Sport jahrelang 30 km pro Weg gefahren, oft mehrere Wochen täglich und habe auch sonst so gut wie jeden Weg mit dem Rad zurückgelegt. Mein Liegerad Karriere begann 2001 mit einem Thys Ruderrad, dessen Nachfolger ich heute noch fahre. Rennen bin ich nie gefahren, was mich reizt und meinen Blick auf Velomobile gelenkt hat, war die Erfahrung, dass man erstaunlich lange Strecken mit dem Rad fahren kann (gut, hier im Forum sind 200 km und mehr keine große Sache) und sich nachher großartig fühlt. Nicht trotzdem, sondern deswegen. Diese Strecken noch ein wenig länger zu machen und das auch mal bei weniger gutem Wetter und etwas mehr Gepäck ist meine Motivation, mir ein Velomobil anschaffen zu wollen.
Nach jahrelangem Mitlesen hier im Forum kam dann Anfang letzten Jahres der Entschluss: Ich muss es endlich einmal ausprobieren, um mich nicht noch länger damit zu beschäftigen. Die Faktenlage ist mir weitgehend klar, die Modellpalette und was die einzelnen Modelle auf dem Papier voneinander unterscheidet ebenfalls, also kann es losgehen. Auch wenn ich keine Rennen fahren will, soll “mein” Velomobil schnell, also schnell genug sein, um damit möglichst weit zu kommen, leicht zu warten sollte es sein, und mich bei Wind und Wetter vom Auto unabhängiger machen. Alltagstauglichkeit spielt insofern bei der Vorauswahl eine Rolle als ich hier nicht gern immer denselben Weg fahre, sondern lieber neue Wege erkunde und daher nicht immer von optimaler Straßenbeschaffenheit ausgehen kann. Vor dem Supermarkt abstellen, unterwegs auf Tour geht das sicher mal, aber hier in der Stadt ein paar Mal die Woche…das war weniger ein Kriterium. Bei der Arbeit kann ich das VM zwar auch nur öffentlich parken, aber das ist weniger exponiert, da mache ich mir nicht so viel Sorgen.
Und weil ich mich selbst ein bisschen kenne: Der Bauch darf auch mit entscheiden.

Letztlich bin ich diese Modelle probegefahren: Velayo, DF-XL, Strada, Quest Carbon, Milan SL. Das Mango hat einfach terminlich nicht gepasst, aber im Prinzip hatte ich auch das noch auf der Liste. Mit Ausnahme des Velayo fanden die Probefahrten innerhalb weniger Tage statt, damit die Eindrücke noch frisch genug waren, um sie vergleichen zu können. Temperaturen waren in allen Fällen um die 2°C, der Wind war stark und kam aus unterschiedlichen Richtungen. In Holland hat es obendrein noch geregnet und der Asphalt war in weiten Bereichen nicht so gut wie um Siedenburg (Milan), außerdem war die Strecke dort leicht hügelig, in Holland dagegen topfeben. Insofern keine wissenschaftliche Vergleichbarkeit, aber eben so ähnlich wie möglich, um meine Wahl darauf zu stützen.
Meine Präferenzen im Vorfeld:
  • offene Radhäuser wegen der Zugänglichkeit
  • Panzerlenkung (kein Muss, aber fand ich irgendwie eingängig)
  • Option für eine Haube
  • ein bisschen Platz ringsum, um auch eine Jacke anziehen zu können und im Winter nicht frieren zu müssen
  • Wendekreis nicht allzu groß
  • Beleuchtungsanlage komplett, sollte evtl. mit Dynamo erweiterbar sein
  • Gewicht unter 30kg
  • Bodenfreiheit für Schlaglöcher und abgesenkte Bordsteine ausreichend
  • Bedeutung einer Federung war mir unklar, mein Ruderrad hat keine und ich finde das in Ordnung, allerdings mag das bei einem Dreispurer ganz anders aussehen. Ausprobieren
  • Bonuspunkte für ortsnahe Hersteller im Falle einer Reparatur, die ich nicht selber durchführen kann

Diese Kriterien hatte ich mir reiflich überlegt und war mir ziemlich sicher, dass ich sie zwar noch grob in der Praxis überprüfen, sich am Ergebnis nicht mehr allzuviel ändern sollte.
Ich darf schon einmal verraten, dass ich teilweise mächtig daneben gelegen habe und mich das Ergebnis selbst überrascht hat.
Mehr in Kürze
Prion
 
Zuletzt bearbeitet:
  • offene Radhäuser wegen der Zugänglichkeit
  • Panzerlenkung (kein Muss, aber fand ich irgendwie eingängig)
  • Option für eine Haube
  • ein bisschen Platz ringsum, um auch eine Jacke anziehen zu können und im Winter nicht frieren zu müssen
  • Wendekreis nicht allzu groß
  • Beleuchtungsanlage komplett, sollte evtl. mit Dynamo erweiterbar sein
  • Gewicht unter 30kg
  • Bodenfreiheit für Schlaglöcher und abgesenkte Bordsteine ausreichend
  • Bedeutung einer Federung war mir unklar, mein Ruderrad hat keine und ich finde das in Ordnung, allerdings mag das bei einem Dreispurer ganz anders aussehen. Ausprobieren
  • Bonuspunkte für ortsnahe Hersteller im Falle einer Reparatur, die ich nicht selber durchführen kann
Diese Kriterien hatte ich mir reiflich überlegt und war mir ziemlich sicher, dass ich sie zwar noch grob in der Praxis überprüfen, sich am Ergebnis nicht mehr allzuviel ändern sollte.
Ich darf schon einmal verraten, dass ich teilweise mächtig daneben gelegen habe und mich das Ergebnis selbst überrascht hat.

es wundert mich nicht, das nach der Probefahrt viele Optionen anders gesehen werden. Nach ein paar 10.000km sieht es dann noch mal anders aus. ;)
 
So, nun zu den Probefahrten selbst.
Das Velayo bin ich als erstes gefahren und war zunächst einmal sehr angetan, hatte aber ja noch keinen Vergleich. Es war nicht so groß wie ich es mir vorgestellt hatte, im Rückblick lag es aber daran, dass ich noch kein anderes Velomobil gesehen hatte. Trotzdem täuscht die Tatsache, dass man als Fahrer wesentlich höher sitzt als in jedem anderen VM darüber hinweg, dass der umhüllte Raum so ziemlich genauso groß ist wie ein Quest, dafür kommt es aber durch die außerhalb der Verkleidung liegenden 26er Räder sehr hochbeinig daher. Bei den anderen VMs passt nur ein Finger bis maximal eine Handbreit unter dem Gefährt durch, mit dem Velayo hat man bestimmt 30cm - ich habe es nicht genau gemessen, aber wenn man damit aufsetzt, hat man eigentlich ein ganz anderes Problem.
Durch die Spurbreite von über einem Meter hatte ich nie das Gefühl, dass es besonders kippelig war, im Gegenteil, man kann Kurven überraschend zügig fahren. Neben der Spurbreite selbst wird das begünstigt dadurch, dass das Fahrwerk ungefedert ist und sich in Kurven nicht nach außen neigt und man sich dank des großzügigen Cockpitausschnitts sehr weit in Richtung Kurveninneres lehnen kann. Die Hinterradlenkung fand ich völlig unproblematisch, man hat die Vorderräder als breitesten Part ja gut im Blick und kann sich ungefähr darauf verlassen, dass das Heck kaum weiter ausschwenkt als das kurvenäußere Rad. Der Kurvenradius ist an sich gar nicht so riesig, hier schlägt natürlich die Spurbreite zu. Trotzdem, ich fand es noch in Ordnung.
Die fehlende Federung fand ich nicht schlimm, obwohl ich auch durchaus schlechte Abschnitte gefahren bin. Es bollerte bei Stößen, aber insgesamt war das Velayo dank der kurzen Kette leiser als die anderen VMs. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie langzeitstabil die Verbindung der Hülle zum ungefederten Rahmen ist oder ob da nicht doch mal Risse entstehen können.
Was mir nicht ganz so gut gefallen hat war die Tatsache, dass die Verkleidung sehr dünn war und man wohl kaum etwas lose hätte hereinlegen können, das war bei allen anderen Modellen anders. Der Stauraum selbst war während der Fahrt nicht so gut zugänglich hinter dem Sitz. Neben den Beinen hat man unglaublich viel Platz, da die Radhäuser ja fehlen, diesen Platz kann man auch kaum anders nutzen. Der Sitz verschiebt sich auf einem nach hinten abfallenden, tragenden Alurohr. An sich pfiffig gelöst, aber für mich als relativ langbeinigem Fahrer führte es dazu, dass ich so weit hinten und damit unten saß, dass ich beinahe schon Schwierigkeiten hatte, nach vorn über die Verkleidung auf die Straße zu schauen. Da der Antrieb auf die Vorderachse, genauer auf das linke Vorderrad geht, muss die große Tretlagerüberhöhung wohl sein, um die Kette nicht allzu kurz werden zu lassen. So kommt das Velayo also zu seiner für mich unnötig großen, bulligen “Nase”. Kleine Fahrer und Sitzriesen haben damit auf Grund der Besonderheiten der Sitzverstellung vielleicht nicht so ein Problem. Und wie gesagt, man sitzt sehr aufrecht mit größerer Tretlagerüberhöhung als in den anderen VMs.
Die Bodenfreiheit ist konkurrenzlos gut und der Antrieb sehr direkt. Was ich nicht testen konnte war die Kletterfähigkeit bei nassem oder rutschigem Untergrund. Da der Rahmen recht nahe an der Vorderachse liegt, sind allerdings der Größe der Kassette Grenzen gesetzt, bei einem 28er Ritzel ist Schluss soweit ich weiß.
Womit ich zu meiner Überraschung nicht besonders gut klar kam, war die Panzerlenkung. Ich hatte in der Breite zu wenig Platz für die Ellenbogen, die auf den seitlichen, vorn zur Vorderachse abfallenden Rohren lagen, auch ein wenig mehr Platz nach unten hätte ich mir gewünscht. Während die Gewöhnung an die viel ungewöhnlichere HR-Lenkung bei mir ganz schnell verlief, konnte ich mich an die Panzerlenkung die ganze Zeit nicht gewöhnen. Ich ertappte mich dabei, unbewusst leichte Schlangenlinien zu fahren, um ein Gefühl für die Lenkung zu behalten. Vielleicht ist meine Prägung durch die Tillerlenkung beim Ruderrad doch stärker als vermutet.
Die gleich großen Räder sind für unterwegs natürlich toll, mit einer Größe für Schlauch und Reifen hat man alles dabei. Die Scheibenbremsen liegen frei im Luftstrom auf den Vorderachsen, aber vor hochspritzendem Dreck gut geschützt. Ich habe es nicht probiert, aber möglicherweise hat man durch die weit auseinanderstehenden und einzeln gebremsten Räder eine gewisse Chance, das Fahrzeug bei ausbrechendem Hinterrad noch unter Kontrolle zu bekommen, bei den anderen Modellen mit fast halb so schmaler Spur ist wahrscheinlich der Hebel dafür zu kurz, weshalb diese auch alle konsequenterweise beide Bremsen über einen gemeinsamen Hebel ansteuern.
Die optische Präsenz im Straßenverkehr ist sehr gut, man sieht gut und wird sehr gut gesehen. Im Fall eines Unfalls bietet der stabile Alurohrrahmen vielleicht einen gewissen Schutz, wohingegen mir eine relativ scharfkantige Metallplatte am vorderen Cockpitrand, die die Schalenhälften zusammenhält, unter Sicherheitsaspekten nicht so gut gefiel.
Spurfehler sind durch die Anordnung der Vorderräder ausgeschlossen, schon schön, aber so hat man eine Ausrede weniger, wenn es mal nicht so lief wie erhofft. Marcus von der Wehl hat mit einer gepimpten Version einen 47er Schnitt bei der Cyclevision hingelegt, für mich ein Indiz, dass das Velayo vielleicht besonders die Fahrer anspricht, denen die passive Sicherheit wichtig ist und die mehrheitlich einfach nicht so auf Geschwindigkeit fahren. Ein sportlicher Fahrer kann aus dem Velayo sicher mehr herausholen kann als man ihm allgemein zutraut, auch wenn es mit den freistehenden Rädern und der kantigen Formgebung nicht mit der letzten Generation der auf Speed getrimmten VMs mithalten kann (und will).
Obwohl Marcus bei der Konstruktion vieles sehr richtig gemacht hat, habe ich mich letztlich doch gegen das Velayo entschieden. Es hat viel Platz da, wo ich langer Schlacks ihn nicht gebrauchen kann und er mir die Sicht behindert. In der Summe spricht zu vieles, vor allem die aufrechte Sitzposition, gegen meinen Einsatzzweck und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an die Panzerlenkung gewöhnen könnte. Trotzdem, sollte es einmal ein Velayo 2 geben, werde ich mir das ansehen.
Entschuldigung, das ist ein wenig länger geraten als geplant, ich werde mich in Zukunft kürzer fassen.
Prion
 
Gedanklich befaßt sich Prion schon länger mit Velomobilen und geht das Thema sehr durchdacht an.
Danke, wobei ich ja gerade kein Geheimnis daraus mache, dass die Theorie auch nicht alles ist. Außerdem habe ich viel von Leuten (auch Dir!) gelernt, die viel mehr Erfahrung haben als ich.
 
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