Ich gehe mal davon aus, dass mit Autos auch dann die Fahrbahn benutzt würde, wenn es keine Fahrbahnbenutzungspflicht gäbe.
Auch im Stau? Die Praxis zeigt, dass gerne Abkürzungen über Tankstellen genommen werden, Sperrflächen überfahren oder schlicht die Busspur illegal genutzt um am Stau vorbeizufahren. Du siehst: Sobald die realistische Möglichkeit gegeben ist ignorieren Autofahrer auch heute schon längst die Fahrbahnbenutzungspflicht. Ist offenbar nur so selbstverständlich, dass es Dir noch nicht mal auffällt.
Manchem mag das logisch erscheinen. Wäre es auch logisch, separate Fahrbahnen für LKWs und Motorräder einzuführen?
Unter Umständen: na klar. Es gibt z.B. Busspuren. Aus Gründen. Es gibt auf Autobahnen LKW-Überholverbote und Kriechspuren und manchmal auch LKW-Spuren - aus Gründen. Es gibt für LKW Durchfahrverbote. Aus Gründen. All das gibt es schon längst. Wenn es einen sachlichen Grund dafür gibt. Motorräder haben schlicht einen viel zu geringen Anteil am Gesamtverkehr um da gross drüber nachzudenken und sie unterscheiden sich von ihren Fahrzuständen nicht dramatisch vom PKW-Verkehr - da gibt es also keinen Grund. Ausser auf bestimmten Strecken Lärm und Unfallgefahr, dort werden dann gerne mal Streckenverbote verhängt.
Strassenbahnen sind ein anderes Beispiel: Die fahren sowohl im Mischverkehr mit andern Verkehrsmitteln wie auch auf getrennten Spuren. Letzteres ist praktischer - aber aus Platzgründen nicht überall der Fall.
Sprich: Mischverkehr ist kein Dogma - wenn die Unterschiede zwischen Verkehrsmitteln zu groß sind hinsichtlich Geschindigkeit, Relevanz, etc. kann Separierung sinnvoll sein und wird auch praktiziert. Nicht immer und nicht überall, das aber für den Fahrradverkehr pauschal abzulehnen halte ich für ideologisch motiviert und nicht sinnvoll.
Warum sollte das neidisch machen? Als Autofahrer verspürte ich noch nie den Wunsch, auf dem Radweg zu fahren. Ich habe einen solchen Wunsch auch noch nicht von anderen Autofahrern gehört. Für Radfahrer wäre die Wahlfreiheit auch nur dann ein Vorteil, wenn Fahrbahn und Radweg wirklich gleichwertig wären (baulicher Zustand, Breite, Übersicht).
Tja. Warum fahren Autofahrer dann verbotenerweise durch Fahrradstrassen (die nur für Anlieger freigegeben sind)? Oder auf Busspuren? Oder warum mißachten sie Durchfahrverbote, die für PKW gelten, aber nicht für Radfahrer?
Hier die Geschichte einer Eskalation:
Mit Pop-up-Radwegen hat der Bezirk Maßstäbe gesetzt. Das zweite Vorzeigeprojekt: eine Fahrradstraße vom Südstern zum Mariannenplatz. Doch noch dominieren Autos.
www.tagesspiegel.de
In der Körtestraße herrscht ein Auto-Durchfahrverbot. Wie schwer der Kampf um die Einhaltung der Regeln ist, erlebte Bürgermeisterin Herrmann selbst vor Ort.
www.tagesspiegel.de
Die Körtestraße in Kreuzberg ist eine Fahrradstraße mit Durchfahrtsverbot für Autos – doch das wird massenhaft missachtet. Die Bürgermeisterin ist genervt.
www.tagesspiegel.de
https://www.tagesspiegel.de/berlin/...ch-zehn-jahren-autoverkehr-nach/26602662.html
Ansonsten gleicht es der Wahlfreiheit im Supermarkt: Ich darf auch das alte Obst nehmen, aber irgendwie ist mir das frische dann doch lieber.
Du reitest Binsen. Keiner wählt freiwillig die schlechtere Alternative, wenn er die Wahl hat. Natürlich wird ein Autofahrer, der die Wahl hat zwischen einer freien, mehrspurig ausgebauten Strasse und einem 80cm Hochbordradweg die Strasse wählen. Ist die Strasse aber zugestaut und er hat die Wahl, illegal die Busspur zu nutzen oder seinen Weg illegal durch eine Fahrradstrasse abzukürzen sieht das schon ganz anders aus.
Warum sollte es die Komplexität des Autofahrens erhöhen, wenn Autofahrer nun auch mit Radfahrern auf der Fahrbahn rechnen müssen?
Weil eine Situation mit 1:n Möglichkeiten (mit n > 1) IMMER komplexer ist als eine mit 1:1 Möglichkeiten. Das ist ein objektiver Fakt. Die Frage, die man sich stellen muss ist, ob die Komplexitätserhöhung relevante Folgen hat. Nach dem, was man in den Leserkommentaren der hiesigen Zeitungen lesen kann ist das offenbar der Fall:
"Die Radfahrer fahren überall" "Sie kommen aus allen Richtungen aus dem Nichts" "keine Chance überall gleichzeitig hinzugucken" etc. etc. Diese Äusserungen sind Zeichen einer Überforderung, die aus Komplexität entspringt. Sehe ich auch im Alltag auf der Strasse, hauptsächlich in Abbiegesituationen: Der Autofahrer achtet auf den Hochboardradweg, prompt schlängelt sich einer direkt rechts neben ihm auf der Fahrbahn vorbei. Er achtet auf Radler in seiner Fahrtrichtung - promt kommt ein Geisterradler. etc etc.. Man muss einfach anerkennen, dass die nötige Aufmerksamkeit nicht ohne ist. Das entbindet Autofahrer nicht von ihrer Verantwortung diese aufzubringen. So zu tun als ob das alles easy-peasy wäre halte ich aber für ignorant. Eklatante Folge dieser Überforderung: Manche Autofahrer übernehmen nicht mehr die Verantwortung, weil sie die Komplexität nicht bewältigen können:
"Wenn ich einen umfahre ist das Schicksal - ich gucke so gut ich kann, habe aber das gefühl, das reicht nicht. Besser geht aber nicht - es ist also weniger eine Frage ob ich einen umfahre sondern eher wann. Ich kann nichts dafür, ich bin jeden abend dankbar, wenn ich unfallfrei durch die Stadt gekommen bin." wäre eine dahingehend typische Äusserung. Da dann den Autofahrer aggressiv anzugehen oder die Existenz eines Problems zu leugnen oder sich darauf zu beschränken "der Autofahrer ist schuld" zu rufen ist nicht direkt das, was ich unter konstruktiv verstehen würde.