In der Tat, das ändert aber nichts daran, dass es ein gewichtiges Argument gegen die Trennung ist. Genaugenommen ist es ein Argument für Shared Space, weil da auch nicht die zu Fuß gehenden separiert werden.
Ich würde tatsächlich beim ersten Teil Deiner Aussage bleiben: Es ist ein Nachteil der Separierung, den bisher keiner vernünftig auflösen konnte und daher ein Argument, das gegen Separierung spricht. Ein Argument für shared Space ist es dadurch nicht zwingend - das wäre es nur dann automatisch, wenn man von vorneherein die Existenz einer dritten Alternative ausschliesst. Man würde sich dadurch also ohne Not das Gesichtsfeld verengen. Auch wenn wir heute vielleicht keine dritte Alternative kennen heisst das ja nicht, dass es keine gibt oder geben könnte.
Was den Mischverkehr (und noch massiver den shared Space) angeht, hat man da halt auch leider ein Problem. Wie gross das ist hängt vom Ziel ab, das man erreichen möchte - und dass die unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Ziele erreichen wollen ist ein sehr gundlegendes Problem der Diskussion.
Wir wissen, dass unterschiedliche Verkehrsteilnehmer unterschiedliche Eigenschaften haben: Masse, Abmessungen, Gefährdungspotential und Geschwindigkeiten sind unterschiedlich. Will man nun erreichen, dass alle ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechend möglichst schnell voran kommen ist gleichberechtigte (!) Separierung naheliegend und sinnvoll. Auch hinsichtlich der Gefährdung, wenn wir das Kreuzungsdilemma mal ausser acht lassen für den Moment.
Problem der Mischung ist - die Mischung.
Jedem Systemanalytiker ist bekannt: Die Geschwindigkeit eines Gesamtsystems wird durch sein langsamstes Element bestimmt. D.h. auf einer einspurigen Strasse ohne Überholmöglichkeit wäre der langsamste Radfahrer der, der die Geschwindigkeit aller bestimmt. Bei einem System mit Fußgängern wäre es der langsamste Fußgänger. In einem solchen System hätten wir quasi durchgehend verkehrsberuhigte Zone. Das ist vermutlich nicht im Sinne aller Teilnehmer am Strassenverkehr - daß Radfahrer nichts dagegen hätten, das geschwindigkeitslimitierende Element zu sein (so lange sie auf dem Rad sitzen und nicht ein 36t Sattelschlepper direkt hinter ihnen fährt) kann ich mir durchaus vorstellen. Aber schon die Tatsache, dass es ein anderer Radfahrer sein könnte, der deutlich langsamer ist als sie und sie ausbremst fänden sie vermutlich in der Praxis gar nicht gut. Geschweige denn ein Fußgänger. Autofahrer fänden das so oder so inakzeptabel. So ein System wäre aber immerhin ziemlich sicher, da alle mit der gleichen Geschwindkeit unterwegs sind (Modell Perlenschnur), zumindest abschnittsweise. Bloss nützlich wäre es nicht und ziemlich praxisfern: Da könnten gleich alle zu Fuß gehen.
Also muss man irgendwelche Überholmöglichkeiten schaffen - und handelt sich dabei gleich ein ganzes Bündel Probleme ein: Viele Entitäten unterschiedlicher Geschwindigkeit in einem System führen zu Konflikten und potentiell zu Kollisionen. Um so mehr, wenn es keine zentrale Steuerung oder übergeordnete Intelligenz gibt (wie etwa vernetzte, selbstfahrende Autos, einige Generationen besser als das was man heute kaufen kann). Was dagegen em ehesten hilft ist Platz - wenn das System reichlich Überkapazität hat ist das Problem gering. Sieht man beispielsweise hier in Berlin auf dem Tempelhofer Feld auf der ehemaligen Startbahn des Flughafens. Da sind Skater, Radler, Fußgänger, Jpgger, Gleitschirmbuggyfahrer und was weiss ich noch alles unterwegs in rauen Mengen und beliebigen Gruppengrössen und Formationen und relativ kunterbunt durcheinander, geschwindigkeits- und auch richtungshalber. Ein Problem gibt es selten, weil reichlich Platz vorhanden ist. Autos fahren da keine - das wäre massiv strafverschräfend da durch die deutlich höheren Geschwindkeitsunterschiede, die höhere Geschwindigkeit von Autos und den höheren Platzbedarf massiv mehr Fläche nötig wäre und vermutlich der jetzt reichliche Platz dann nicht ausreichen würde um wecheselseitig behinderungsfrei und kollisionsfrei sich da zu tummeln.
Inhomogenität ist also ein Problem. Entweder behindern Radfahrer oder Fußgänger die Schnelleren (Autos) oder die Platzverbrauchenderen (Autos) behindern durch Stau die schlanken, agilen (Radfahrer). Von den unterschiedlichen Massen und Gefährdungspotentialen haben wir da noch gar nicht geredet. (Dazu ist z.B. diese aktuelle Auswertung interessant:
http://www.pacts.org.uk/wp-content/uploads/PACTS-What-kills-most-on-the-roads-Report-12.0.pdf - ich empfehle DRINGEND vor dem wahlweise trimphierenden oder wutschnaubenden Zitieren daraus die Nachbemerkung der Autoren zu zulässigen und weniger zulässigen Interpretatinonen zu lesen und zu beherzigen.)
Der Inhomogenität versuchen wir in der Praxis durch die StVo Herr zu werden - klappt, wie wir alle wissen, eher so mittelprächtig. Auch hier gilt wieder die alte Weisheit: Komplexität schafft Probleme. Versucht man der Komplexität durch künstliche Regeln Herr zu werden erhöht man zunächst mal die Komplexität. Und wenn sich nicht verlässlich alle an die Regeln halten wird das wahrscheinlich nix (und noch dazu bleibt die Komplexität dauerhaft künstlich höher als vorher). Im Idealfall findet ein System von allein sein Gleichgewicht - bloss ist das System Strassenverkehr zu inhomogen dass das gut ablaufen würde, der gemeine Deutsche zu rechthaberisch und das Systemgleichgewicht ist nicht an Gerechtigkeit und Schutz der Schwächeren interessiert sondern ausgesprochen darwinistisch - sprich für Radler und Fußgänger ist kein Platz auf der Fahrbahn, sie werden verdrängt oder an den Rand gedrängt. Wenn sie überleben wollen werden sie also versuchen sie zu meiden. Kommt das irgendwem bekannt vor?
Einen Vorteil hat das Mischsystem aber und zwar einen Großen: Dynamische Kapazitätsallokation. Wenn ich separiere teile ich einzelnen Verkehrsarten Kapazität in Form von Platz zu und diese Zuteilung ist mehr oder weniger fix. Wenn sich was ändert, z.B. kurzfristig durch Berufsverkehr, kann ich darauf nicht reagieren. Wenn sich langfristig was ändert, z.B. durch deutlich mehr Radverkehr, kann ich darauf nur sehr aufwändig und teuer durch Umbaumaßnahmen reagieren (und habe danach erneut eine zementierte Kapazitätsverteilung).
Die Situation, unter der wir heute leiden resultiert daraus, daß die Kapazitätsverteilung auf Basis einer in den 70er und 80er Jahren angenommenen Verkehrsmittelnutzung zementiert bzw. betoniert
wurde. Völlig überraschend ist die heute nicht mehr passend. Nicht besser wird die Sache dadurch, dass die verfügbare Gesamtkapazität vielerorts irgendwann zwischen Mittelalter und kurz nach der Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert festgelegt wurde, als die Bebauung geplant und hingestellt wurde. Damit (mit der damals festgelegten Strassenbreite) müssen wir heute leben und auskommen. Amerika Du hast es besser. Zumindest in diesem Aspekt und als - sagen wir mal Rothenburg ob der Tauber.
Die autonarrischste Nation hat also möglicherweise die besten Voraussetzungen für fairen Radverkehr, schlicht weil sie keine Tradition und Baukultur haben und weil sie ihre Strassen extrem grosszügig für grotesk überdimensionierte Autos geplant haben. Jetzt müsste sie ihre Möglichkeiten nur noch nutzen. Geschichte kann schon ironisch sein.
Wer sich mal klar machen möchte, wie schwierig solche Kapazitätsaussagen sind kann sich mal unsere Berliner Flughäfen ansehen: Der just geschlossene Flughafen Tegel ging Ende 60er/Anfang 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Da war der Mauerbau gerade mal gute 15 Jahre her. Zum Schluss wurde er wenn ich das richtig erinnere mit dem 10-fachen (!) seiner Nennkapazität betrieben, was zu diversen Problemen und unzufriedenen Fluggästen führte (ich hingegen bin begeistert, dass das überhaupt möglich war). Unser schicker neuer BER wurde wiederum Anfang der 90er erdacht, kurz nach dem Mauerfall und ging vor knapp zwei Wochen in Betrieb. Während der Bauphase wurde die Kapazität x-fach angepasst mit dem Ergebnis: Jetzt stehen da doch wieder unerwünschterweise irgendwelche Wellblechterminals rum, die man ja eingentlich los werden wollte. Und Corona sei dank wird die Kapazität nicht mal ansatzweise gebraucht, da wäre aktuell sogar Tegel gelangweilt, sogar auf Basis der Nennkapazität. Ob die vorhandene Kapazität je wieder gebraucht wird weiss keiner, von den bereits geplanten Erweiterungen ganz zu schweigen...
Wie ein weiser Mann einst sagte: Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
Flexible Kapazitätsallokation scheint also höchst wünschenswert und damit ist das Hochbord eigentlich raus als Standardlösung, von Sondersituationen mal abgesehen. Zumal absehbar ist, dass sich "Verkehr" in den nächsten par zig Jahren noch mal dramatisch verändern wird. Was man also weiss ist was auch immer man heute in Beton giesst wird den Ansprüchen in 40 Jahren nicht gerecht werden.
Der totale Mischbetrieb ist eigentlich aus oben genannten Gründen auch raus. Man könnte was dran machen, z.B. die Geschwindigkeitsdifferenzen vermindern - sprich Tempo 30 in der Stadt flächendeckend. Fände ich gut und hilfreich. Dann wäre der alltägliche Geschwindigkeitsunterschied innerstädtisch nicht mehr 10 km/h (langsamer Radler) zu gut 70 km/h (Autofahrer mit lassaiz-faire Einstellung zu Geschwindigkeitsbeschränkungen), sondern deutlich geringer: 20 km/h maximale Differenz vs. 60 km/h maximale Differenz heute. Damit wäre schon sehr viel Gefahr und Konfliktpotential eliminiert. Allerdings braucht es dazu entweder massives Policy-Enforcement (sprich Überwachung) oder sehr viel Einsicht der Verkehrsteilnehmer - auf beides würde ich nicht wetten, solange nicht das selbstfahrende Auto den Fahrer ersetzt.
Und damit wären wir dann doch bei Variante drei - zumindest potentiell: Getrennte, flexibel verschiebbare Fahrstreifen auf einer Fläche. Irgendwas was zwischen Angebotsstreifen, Schutzstreifen und protected Bikelanes rangiert. Hielte ich aktuell für die beste Wette. Was sich aber auch wieder ändern kann. Und so ausgestaltet werden muss, dass auch die Ängstlichen sich zu fahren trauen, genug Platz ist um der Geschwindigskeitdifferenz zwischen Radlern gerecht zu werden (die liegt ja auch bei 20 plus ein bisschen km/h) und das Kreuzungsproblem muss auch entschärft werden. 30 km/h flächendeckend und ein Verbot schwerer LKW im Innenstadtbereich hört sich für mich z.B. auch hier nach einer guten Idee an, ebenso Policy Enforcement. Neben diversem anderen. So oder so muss Fläche vom Auto zum Rad verteilt werden und zwar in erheblichem Ausmaß. Denn mehr Fläche für Autos zieht, so zeigt die Erfahrung, immer noch mehr Autos an. Die Fahrräder haben jetzt schon zu wenig für den existierenden Bedarf. Wie genau man das ausgestaltet darf dann der Radprofessor rausfinden, dafür wird er bezahlt.
Die Fußgänger würde ich übrigens aus der Gleichung rauslassen und auf dem Fußweg lassen - die sind Geschwindigkeitsmässig noch mal langsamer, vom Verhalten her noch unberechenbarer (spontanes Stehenbleiben, gerne in der Gruppe, hemmungsloses spontanes Queren und Richtungswechseln etc.) - das erhöht die Komplexität noch mal deutlich und damit auch das Unfallpotential. Nichts gegen (mehr) shared spaces - als Standardmodell allerorten würde ich das aber nicht sehen.