Bericht über ein spontanes Privatbrevet.
Vorbereitung
Zwischen 400 und 700 Kilometer sollen es während einer Tour in diesen (Ferien-)Tagen werden. Nach Verwerfen von mehreren Routenvarianten (Grenzen geschlossen oder Pässe mit Wintersperre) steht gegen Mittag fest: Eine abgewandelte Form des dieses Jahr ausfallenden (oder gar nicht vorgesehenen?) Alpenluft+-Brevets soll es werden. Und zwar die Variante mit minimalen Höhenmetern bei maximaler Bergsicht
.
Die Startzeit, 15:30, richtet sich nach der angepeilten Uhrzeit für das Befahren der Hauptgefällestrecke: So früh am Morgen wie möglich aber mit Tageslicht.
Die paar verbleibenden Stunden bis zum spontanen Abenteuer füllen sich mit essen, Kleider einpacken, Track auf GPSr laden, Akkus laden und ausruhen. Das Velo nehme ich so mit wie ich es nach der letzten Fahrt in die Garage gestellt habe: mit allem anhaftendem Dreck und ohne nachzupumpen.
Route
Solothurn-Olten-Aarau-Brugg-Zürich-Sargans-Chur-Versam-Andermatt-Realp. Bahnverlad, weil der Furkapass noch gesperrt ist. Oberwald-Sion-Montreux-Moudon-Murten-Solothurn. Ungefähr 650km, 4000Hm.
Bericht
Auf mir bekannten Strassen und Wegen fahre ich in die Nachmittagssonne. Es geht bis Killwangen flott voran - brutto 35 km/h. Gerade rechtzeitig auf den Feierabendverkehr erreiche ich das Limmattal - dies habe ich bei der Planung natürlich nicht berücksichtigt. Die mit Baustellen und Staus gespickte Strecke zwischen Killwangen bis nach Zürich Enge ist körperlich wegen ständiger Beschleunigung viel anstrengender - brutto 21 km/h.
Wieder im gemütlichen Cruise-Modus mit gelegentlichem Blick auf den von der Abendsonne beschienenen Zürichsee erinnere ich mich, dass ich ja bald unweit von A. vorbeikomme. Während die Baustellenampel in Giessen mich zum Warten zwingt, schreibe ich eine kurze Nachricht und eine halbe Stunde und etwas perfekte Veloroute später stehe ich mit einem Espresso in der Hand in A.s Küche.
Grazia fitg per ta spontanadad (oder so)!
Wenige Minuten vor Sonnenuntergang auf der Brücke über die Bahnlinie bei Oberurnen
Eine Tafel Schokolade wandert in den Magen, während ich das Wäschpi die paar steilsten Meter der Walenseeveloroute hochschiebe.
In Unterterzen ist die Fahrbahn feucht, in Walenstadt gar nass und es regnet leicht. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ein kurzer Blick auf den Regenradar offenbart: Nur dank der Pause bei A. bleibe ich trocken und bis nach Sargans bekommt das Velo die schon lange nötige Radkasten- und Unterbodenwäsche.
Eine Nachtfahrt wiederholt auf der gleichen Strecke zu machen, hat neben Streckenkenntnis (weniger GPS-Verbrauch, weniger bremsen=energieschonender) auch ganz praktische Vorteile wie z.B. dass ich Ort und Öffnungszeit eines Tankstellenshops noch kenne. Zwei Sandwiches und 3 Paar Landjäger wandern in den Mampfsack und werden im Verlauf der Nacht in Vortrieb umgewandelt.
An der Eisenbahninfrastruktur bei Reichenau wird gebaut und dafür wird der Verkehr bei der Brücke durch den Verkehrsdienst geregelt. Dem Lotsen ist um 23:18 wahrscheinlich ziemlich langweilig (Autos fahren da kaum durch, die dürfen über die Autobahn und müssen nicht übers Kopfsteinpflaster) als er mein Frontlicht sieht und sogleich Zeichen zur freien Fahrt gibt. Und ich fahre nicht einmal durch, sondern in die mit Sackgasse ausgeschilderte "Gassa" - ein viel besserer Weg hinauf nach Bonaduz.
Die Sicht in die Rheinschlucht vor Versam ist mangels Licht unspektakulär.
Die Sterne funkeln.
02:31, Tunnel zwischen Disentis und Sedrun. Bei so wenig Verkehr sind solche temporären Strassenblockaden kein Problem.
In Sedrun waren es
vor zwei Jahren „39“ - heute „40“.
Ich merke, dass ich vor dem Zeitplan liege und lege schon früher als nötig die kürzeste Untersetzung auf, was bei angenehmer Trittfrequenz eine Geschwindigkeit von 6.3 km/h ergibt. 5 Haarnadelkurven nach links sehe ich auf der Karte. Obwohl sich das an einer Hand abzählen liesse, weiss ich bald nicht mehr, ob ich jetzt bei 3 oder bei 4 bin - im Gelände nachsehen ist wegen Dunkelheit/Verkehrsfreiheit nicht so einfach und extra das GPSr bemühen lohnt sich auch nicht.
Oberalppass bei anbrechendem Tageslicht. Die Lichterkette im Hintergrund ist die beleuchtete Galerie.
Das Ziel "Abfahrt bei frühestmöglichem Tageslicht" gelingt nicht ganz: Ohne Frontlampe hätte ich noch etwas warten müssen.
Es ist bewölkt und das nimmt mir auch den Entscheid ab, ob ich noch bis Sonnenaufgang auf der Urseren-Seite warten oder den ersten Autozug nehmen und den Sonnenaufgangszeitpunkt im Tunnel verbringen soll.
Erstens kommt es bekanntlich anders und so stelle ich in Realp fest, dass der recherchierte Fahrplan für die Gegenrichtung ist (erst wollte ich anders herum fahren). So verbringe ich eine halbe Stunde länger in den warmen Warteräumlichkeiten vom Bahnverlad: Kaffee und Süssgetränk aus dem Automaten, warmes Wasser für eine Katzenwäsche beim WC.
Furkapass. Oder so.
Fressalien, Sonnencrème, etc vom Sitz aus griffbereit und eine Pneukontrolle ist ebenfalls bequem vom gepolsterten Sitz aus möglich. Dazu ist es noch angenehm warm und ohne Anstrengung. Das Passfahrt-Feeling kommt nicht auf
.
Wenn ich schon das Handy für die Fotos in der Hand halte, kann ich auch eine kleine Message abschicken.
Goms: Sonne, Gefälle, neuer Belag, kaum Verkehr.
Rhonedamm-Velobahn unterhalb von Chippis
Auch parallel zur Autobahn (rechts) kann die Aussicht schön sein.
Durch das Rhonetal rollt das Wäschpi gefühlt sensationell. Es geht ja auch immer ein bisschen bergab.
Das Resultat der frühmorgendlichen Nachricht aus dem Autozug:
@Denis und N sind mir ein Stück entgegengefahren, um mich zu begleiten.
Ortskundig werde ich ins beste Café von St.Maurice gelotst. Koffein und Gebäck gibts da für mich zwar auch, aber vor allem wieder einmal etwas direkte Kommunikation, was in den letzten Monaten einfach arg zu kurz gekommen ist.
Statt auf die Route vom GPSr muss ich mich jetzt nur darauf konzentrieren, den Ortskundigen nicht ins Heck zu fahren und werde dabei perfekt gelotst:
Wer das Gebäude links am Hang erkennt, weiss auch wo das Foto entstand.
Schloss Chillon von der nicht ganz so schönen Seite.
Der für mich dritte und letzte längere Aufstieg mit nur wenigen Blicken auf den Genfersee.
In Puidoux verabschieden wir uns. Zuvor darf ich aber noch sehen, wie Velomobilprofis innert wenigen Sekunden einen Platten (trotz Tubeless) beheben: Rad ab, Ersatzrad aus dem Velomobil holen, montieren, Rad im Velomobil verstauen, fertig - nicht schlecht!
Erst zu Hause erinnere ich mich an den nur wenige Meter von hier stehenden Eiffelturm. Den sehe ich mir beim nächsten Mal an.
Vielen Dank, N und D, dass ihr so spontan seid und euch die Zeit genommen habt!
Noch 120 km bis heim. Das denke ich mir, als ich mir die Windsituation anschaue: Mit gemäss Meteoschweiz 27 km/h Gegenwind, konstant.
Eines der tausenden schönen Strässchen im Waadtland. Hier zwischen Moudon und Lucens.
Bei Marnand wechselt mein Track, und damit auch ich, auf die Hauptstrasse. Das ist sowas von kein Spass, dass ich schon nach wenigen hundert Metern auf den Rastplatz fahre, um eine neue Route zu planen. In dem Moment sehe ich im Rückspiegel einen Traktor auftauchen. Meine Chance! Die für die Routenplanung gedachte Standzeit ist gemäss Aufzeichnung gerade einmal 20 Sekunden.
42 km/h. Wie ein Mantra. Bergab bremsen, bergauf sprinten, nach Kreisverkehren ebenfalls sprinten. Dieses Intervalltraining tut der nicht mehr ganz frischen Muskulatur überhaupt nicht gut, scheint im Moment aber die beste Variante.
Eingangs Faoug, nach 16.6km muss ich definitiv abreissen lassen, nachdem der Traktor in der Steigung wegen eines unaufmerksamen Autolenkers fast bis zum Stillstand gebremst hat.
Egal was der Track sagt: Hier kenne ich mich wieder bestens aus und fahre statt dem schnellsten den angenehmsten Weg:
Seeland zwischen Kerzers und Aarberg. Auch wenn ich dieses Strässchen bei erweiterten Arbeitswegfahrten oft fahre, ist es mir heute ein Foto wert.
In Lohn gibt es in Gegenrichtung Stau, weil der Parkplatz der Landi voll ist und sich die Warteschlange bis auf die Strasse staut.
25.5 Stunden nach dem Losfahren bin ich wieder zu Hause. Der hausgemachte Sirup schmeckt noch besser, als ich ihn mir in den letzten Stunden jeweils erträumt habe.