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Schließlich wieder die Alpen. Bilderbuch, klar und kühl die Luft, überwältigend mächtig das Gebirge, idyllisch bis zum Kitsch das drumherum. Das Ganze ist ein Gesamtkunstwerk, und ich bin mir nicht sicher, ob die vielen Merkmale eines gigantischen Freizeitparks eher stören nicht nicht doch fester Bestandteil dieses Kunstwerks sind.
Die Auffahrt zum Maloja gehört sicher zu den Erlebnissen dieser Tour. 30 km oder so kurbelt man im einstelligen Prozentbereich durch die eben beschriebene Landschaft, entlang von Bergflüssen und Bächen, die mal links, mal rechts dahin rauschen oder von oben aus den Wänden stürzen. Wiesen, Wald, Dörfchen. Dann die Schweizer Grenze, völlig unspektakulär verlassen wir die EU, "Bitte weiter" sagt der Grenzer und schaut nicht mal richtig hin.
Schließlich steht man irgendwann am Ende der Folge von Bergtälern, und da ist nur noch Berg. Wie weiter? Näherkommen bemerkt man oben in der steilen bewaldeten Wand irgendwo einen Holzlastwagen, der eine steile Rampe hinab fährt und zwischen Bäumen verschwindet, dann ein, zwei Autos, die eine ebenso steile Rampe auf anderer Höhe hinauf fahren, verschwinden, etwas später ein ganzes Stück oberhalb wieder erscheinen, ebenso wie der Lastwagen und andere Fahrzeuge. Wie machen die das? So steil? Schaffe ich das?
Mit diesen Gedanken fahre ich weiter und erreiche die erste Haarnadel. Geht doch. Und die Rampe zur nächsten ist auch nicht so steil wie sie von unten erschien, immer mal wieder in die zweistelligen Prozente, aber ok. So geht es Kehre für Kehre, und bei jeder Fahrt nach rechts wird der Abgrund schwindelnder, bei jeder Fahrt nach links gleitet rechts die senkrechte Felswand vorbei. Kehre für Kehre, immer höher bis irgendwann der Zickzack einfach aufhört, und da steht ein Schild Maloja, und noch etwas weiter öffnet sich die Wand und man blickt in eine Hochebene hinein, an deren Beginn ein tristes Dörfchen steht, die Häuser verstreut und meist neu. Eine Abfahrt im eigentlichen Sinn gibt es nicht, dafür geht es an Gebirgsseen entlang, dem Silsersee und dem Silvaplanasee. Oben ist es kalt, man hat bei der Kletterei nicht gemerkt dass es stetig kühler wurde. Auf der Hochebene pfeift der Wind; ich schraube den Wartungsdeckel wieder auf und stopfe die Socke in den Mast. Am Silvaplana fetzen die Kite-Surfer hin und her; dieser See ist eine ihrer Spielwiesen, so wie der Gardasee.
Die nächsten beiden Tage sind kurz, praktisch Vormittage. Den Morgen des ersten verbringen wir meist hinab sausend durch eine großartige Landschaft, die man gesehen haben muss um das Hochgefühl nachzuempfinden, die den Velomobilisten ausfüllt. So schön, so mühelos schnell -- wenn es nur nicht so lausig kalt wäre ...
Der zweite Vormittag, von Ried im Oberinntal aus, ist welliger, vielfach auf kleinen Straßen bzw. geteerten Radwegen, mit einigen saftigen Rampen bis zu 18% und schmalen Durchfahrten, Gravelpassagen und Orten wie einem Betonwerk mit Kiesgrube, wo man zweifelt dass dies der Track sein kann und ob man überhaupt weiterkommt. Und dann biegt man um eine Ecke, schon 50 km gefahren und noch immer kein Frühstück, da erblickt man plötzlich den Milan von Wolfgang
@Gear7Lover, unschuldig geparkt von einem Rafting Center mit Hotel. Drinnen gibt es das beste Frühstück der Tour, all you can eat and drink für 9,50 Euro. Und weiter geht es in rasender Fahrt bei leichtem Bergab auf die Hauptstraße bis nach Telfs, wo die eigentliche Prüfung des Tages wartet -- der Anstieg nach Leutasch, im Schnitt 9%, 600 hm auf 6,5 km. Geduld, und eine Banane.
Die Abfahrt nach Mittenwald ist die Belohnung, von Norden ist dieser Pass viel leichter als von Süden, dafür ist die Abfahrt nach Norden ein Gedicht. Wenn es nur nicht schon wieder so kalt wäre ...
Ein Gedicht auch der letzte Tag, den könnte mal jemand anders erzählen; ich wollte eigentlich nur ein paar kurze Rückblicksgedanken loswerden.
Wenn also die Landschaften das Schönste war, dann war die Gruppe, die gemeinsame Fahrt, das gemeinsame Erleben und die vielen Stunden zusammen außerhalb des Velomobils das Zweitschönste. Wir haben uns gut verstanden, viel gesprochen und gelacht, viel übereinander erfahren und voneinander gelernt, zusammen gegessen und getrunken. Das kann man nicht erzählen, so vieles gäbe es zu sagen.
Aber wir haben auch Grenzen erfahren; die Tour hätte mehrfach scheitern können. Doch wir haben großes Glück gehabt. Nie werde ich das Bild und den Schreck vergessen, als ich ausgangs Aquila um eine scharfe Rechtskurve biege und etwas tiefer auf der anderen Straßenseite ein Velomobil mit Fahrer auf der Seite liegend unter der Leitplanke verkeilt sah. Das hätte übel ausgehen können. Zwei Stunden später fuhr er wieder. Eine ähnliche Situation ereignete sich noch einmal, diesmal hinter mir; hätte ebenso übel ausgehen können. Dann der erste klar positive Covid-Test, auf den drei weitere folgen sollten. Auch das haben wir überstanden, alle verbliebenen 9 Fahrer blieben infektionsfrei bis zum Ende. Schwein gehabt.
So war sie, die zweimal verschobene Italien-Rundfahrt, so und noch viel mehr. Wer nicht dabei war, hat was verpasst.