AW: [Presseschau] Liegeräder: Anstrampeln gegen das System
Der Anteil "alternativer Spinner" (wer wie alternativ ist, ist ja auch Ansichtssache...) ist unter Liegeradlern um ein mehrfaches höher als unter Aufrechtfahrern.
In der Tat Ansichtssache. Liegt nicht zuletzt daran, dass "alternativer Spinner" kaum mehr als eine ziemlich inhaltsleere Worthülse darstellt.
"Alternativ" als Begriff gefällt mir an sich ganz gut in der Bedeutung von "andere Möglichkeit". Dass das Liegerad die beste oder gar einzige Lösung für alles darstellt, wird nirgendwo impliziert - wenn auch gelegentlich unterstellt - und ich persönlich kenne auch keinen einzigen Liegeradler, der im Liegerad die Lösung aller Probleme sieht oder damit die Welt retten will.
"Spinner"
Definition: Jemand, dessen Ansichten ich für unrealistischen Unsinn halte.
Also höchst subjektiv, da sich keineswegs so ohne weiteres festlegen lässt, was unrealistisch und was Unsinn ist, z.B. sehr gut zu verfolgen bei der aktuellen Atomkraft-Debatte . Kurz: Die Spinner, das sind immer die anderen, die einfach nicht kapieren wollen, worum es wirklich geht.
Der Begriff ist überdies nicht nur subjektiv, sondern auch starkem zeitlichem Wandel unterlegen. Beispiel:"Diese grünen chaotischen Spinner werden nie ins Parlament kommen, und falls doch, dann werden sie immer eine kleine und verlachte Minderheit bleiben!"
Klar, die Grünen sind heute eine völlig andere Partei als damals, aber die Liegeräder werden in 20 oder 30 Jahren auch anders aussehen als heute. Und noch entscheidender: Die Menschen werden sie mit ganz anderen Augen betrachten, einen Teil dieses Wandlungsprozesses habe ich ja selbst schon am eigenen Leib mitbekommen.
Wir lernen also: Die Spinner von heute können sehr schnell zur Avantgarde, wenn nicht gar zum Establishment von Morgen werden.
Zur Zusammensetzung des liegenden Volkes:
Nach wie vor halten sich ja hartnäckig allerlei alte Klischees und Vorurteile über den angeblich typischen Liegeradler. Da werden z.B. gerne Birkenstocks und Vollbärte, Wollsocken und missionarischer Eifer angeführt, gelegentlich auch Tempowahn und aerodynamische Verblendung, und noch einiges mehr.
Ich selbst konnte in den zurückliegenden 20 Jahren, in denen ich selbst auf dem Liegerad unterwegs war, nicht mal in Ansätzen einen Archetyp oder auch nur Fragmente einer übergeordneten Ideologie entdecken, im Gegenteil. Ich erlebte die Menschen und ihre Gründe fürs Liegeradfahren stets als sehr unterschiedlich.
Wenn ich beispielsweise nur mal an die Leute denke, die ich in der letzten Zeit am Chiemsee gesehen habe: eine ältere Frau mit Hund auf dem Anthro, ein junger sportlich gekleideter Fahrer auf dem Kurzlieger, ein älterer Herr auf dem Trike zusammen mit seiner Frau auf dem Upright, ein Familienvater auf dem Grashopper mit Kinderanhänger im Schlepptau, ein etwas vierschrötig aussehender Bursche (IIRC mit Tatoos) auf einem Mungo Sport...
Ich finde da beim besten Willen keinen offensichtlichen gemeinsamen Nenner, eine übergreifende Ideologie möchte ich auch stark bezweifeln, Dresscode fällt ebenfalls flach, Alter, Aussehen, nichts...
Am ehesten könnte ich mir als verbindendes Merkmal noch die Tendenz vorstellen, sich eher von der eigenen Überzeugung als vom Herdentrieb leiten zu lassen, aber selbst das kann sich schnell ändern, ich glaube(befürchte) sogar, schon erste Anzeichen dafür zu erkennen. Irgendwann wird es ein massiver Trend und dann wollen alle Schafe eins haben. Und wir können uns höchstens noch damit trösten, zu den Leithammeln gehört zu haben.
Was mir persönlich an der sogenannten Liegeradszene gefällt, das ist gerade die Vielfalt. Es gibt weder
das Liegerad, noch
die Liegeradler, nur ein sehr buntes und in meinen Augen oft herzerfrischendes Allerlei, in dem für (fast) jeden etwas dabei ist.
Es wäre schön, wenn uns diese Buntheit und Vielfalt erhalten bliebe, graue Einheitsmasse gibt es wirklich schon mehr als genug für meinen Geschmack.