Nun ist dieser Faden schon 8 Seiten lang, aber ich möchte trotzdem noch auf meine Quetschflasche Bautz'ner drücken.
Eins vorweg: Ich werde auch in diesem Beitrag E-Bike schreiben, obwohl Pedelec gemeint ist, weil ich finde, dass E-Bike mittlerweile eine Art "Gattungsbegriff" für Pedelecs ist. Niemand draußen auf der Straße sagt Pedelec, alle sagen E-Bike.
Ich kehre zum Threadtitel zurück, wie sollte ein Volks-VM gebaut sein. Ich hole dazu etwas weiter aus, werde zunächst OT (aber nur scheinbar) und bringe eine Analogie in eine andere Branche: Die PCs. Ich meine damit nicht die IBM-kompatiblen, deren Nachfahren auch heute noch die gängigste PC-Plattform ist. Sondern es gab schonmal eine PC-Reihe, die auch ganz direkt "Volkscomputer" hieß. Und ich finde, aus dessen Geschichte kann man viel auch für die VM ableiten.
Bis zum Jahr 1980 gab es im Heimcomputermarkt im wesentlichen den Apple ][, den TRS-80, den Commodore PET und seit einem Jahr die Atari-400/800-Reihe. Diese Rechner waren alle unterschiedlich leistungsfähig, aber hatten gemein, dass sie nicht sehr einsteigerfreundlich waren, verhältnismäßig teuer oder schwierig zu bekommen.
Commodore entschied sich dann, einen Computer für unter $300, bzw. DM 1000 zu bauen, nahm 1980 das Design des ersten PET von 1977, änderte es ein wenig ab und nahm statt der diskreten Video-Logik, die nur 40x25 Zeichen Text in monochrom konnte, einen einfachen integrierten Grafik- und Soundchip her, den sie ursprünglich für industrielle Anwendungen designt und in großen Stückzahlen gebaut hatten, aber den keiner haben wollte. Statt des Monitors sollte ein Fernseher zum Einsatz kommen, der in jedem potenziell computeraffinen Haushalt schon vorhanden war. Mit einem 1MHz getakteten 6502 und insgesamt 5KB RAM (4KB Arbeits- und 1KB Bildspeicher) war die Ausstattung zwar mager, aber das Gesamtpaket taugte schon, um mehr als nur drei Gehversuche zu machen. Das Microsoft BASIC war für damalige Verhältnisse relativ leistungsfähig und es war möglich, auch von dort aus die Hardware direkt zu programmieren und sozusagen die Bits mit dem Hammer selbst krummzuklopfen. Dazu gab es sehr gute Fachliteratur und bei 4KB RAM und dem einfachen und sehr logisch aufgebauten Befehlssatz des 6502 brauchte man nicht mal einen Assembler, da konnte man Maschinenprogramme sogar auf Karopapier schreiben, mit Opcodetabelle per Hand umrechnen und in den Speicher POKE'n. Das ging freilich mit den anderen Maschinen auch, aber für einen Einstiegspreis von damals 899 DM war er nicht der billigste im Markt, aber trotzdem ein unschlagbares Schnäppchen, da er auch deutlich leistungsfähiger war als Sinclairs ZX80, der nicht mehr als ein besserer programmierbarer Taschenrechner war.
Verkaufstechnisch ging Commodore hier auch neue Wege, der VC20 wurde über das Versandhaus Quelle und über den Spielwarenhandel(!) vertrieben, mit dem Argument, dass es auch Spiele-Steckmodule wie bei Spielkonsolen gab, die Spieleperformance über der der Atari 2600 lag, und der Filius vielleicht Lust bekommen könnte, sich mal mit "diesem BASIC" auseinander zu setzen.
Was lernen wir aus dieser Geschichte?
- Commodore war damals eine renommierte, gefestigte Firma mit jahrelanger Erfahrung mit Schreibmaschinen, Taschenrechnern und ihre PET/CBM-Reihe war auch nicht ganz erfolglos
- Sie waren damals groß genug, um sich einen potenziellen Flop leisten zu können
- Der Computer basierte ausschließlich aus Komponenten, die entweder im Hause produziert oder auf dem Massenmarkt eingekauft werden konnten
- Das Design wurde von einem älteren, bereits ausgereiften Modell abgeleitet
- Das Augenmerk lag darauf, dass der Volkscomputer vergleichsweise preisgünstig, aber auch robust, leistungsfähig genug und nutzerfreundlich war
- Er genügte einem damals etablierten Standard (MS BASIC), so dass so erlangte Kenntnisse auch in der Geschäftswelt weiter verwendet werden konnten
- Er machte Spaß, war aber nach damaligen Maßstäben durchaus auch für ernsthafte Tätigkeiten einsetzbar
- Er lud durch seine gute Dokumentation zum erkunden und erweitern ein, allerdings wurde diese fortgeschrittene Literatur separat verkauft, jedoch glich das Handbuch trotzdem einem Computerkurs für Einsteiger
Das lässt sich direkt auf den VM-Sektor übertragen.
Ein Volks-VM kommt idealerweise von oder in Zusammenarbeit mit einem etablierten Fahrradhersteller. Canyon hatte ja schon ein Konzept, allerdings sind die Konzepte aus diesem Sektor zu nahe an einem "verhinderten Auto". Diese Microcars werden von der "uga aga brumm brumm" Fraktion ja stets verhöhnt, ein Fahrzeug, das wie ein Auto aussieht, aber getreten werden muss, landet gleich in der Schublade "der ist zu blöd für nen Lappen / kann sich kein Auto leisten". Genau wie diese 45er.
Es sollte auf etablierte, leicht verfügbare Technik setzen. Die meisten Komponenten in einem VM sind das durchaus, aber ich meine ganz bewusst auch Komponenten, die man an Mittelklasse-E-Bikes beim ZEG-Laden um die Ecke findet. Da muss es nicht immer die Rohloff sein - hier ist Akkurad vorbildlich, die das A6, wenn man unbedingt möchte, auch mit Shimano Nexus-8 anbieten - aber auch den IMHO sehr guten Kompromiss aus Performance und Preis für Alltagsgebrauch und gelegentliche Touren - Enviolo Nuvinci - im Programm haben. Viele hier wollen hochwertige Komponenten, aber ich denke an Lieschen Müller mit 5-10km Arbeitsweg, Wocheneinkauf und vielleicht eine Radtour am Wochenende ins 25km entfernte Eiscafé. Wenn jetzt gesagt wird, dafür brauche man kein VM: Richtig. Aber die Normalbürger kriegt man darüber, dass man da "ein Dach überm Kopf hat". Und der eine oder andere wird vielleicht dann mehr wollen - und auf Rennsemmel umsteigen oder um eine erweitern.
Wo ich bei Mittelklasse-E-Bikes bin: Die Wahl des Motors. Dass im VM-Bereich Bafang oder Tongsheng zum Einsatz kommen, hat pragmatische Gründe, viele der derzeitigen VM-Zielgruppe wollen basteln und so eine kleine Manufaktur kriegt wohl nicht so einfach die Systeme von Bosch, Brose oder Shimano ran. Und generell die Motorfrage: Die ist unverhandelbar, wenn man Lieschen Müller und Otto Normal erreichen möchte. Es gab auch während der Lockdowns und Einschränkungen durch Hygieneauflagen viele andere Betätigungen, die auch draußen gingen, aber dass ausgerechnet das Fahrrad als klarer Sieger hervorgegangen ist, das ist dem vorher schon im Gange befindlichen Siegeszug der E-Bikes zu verdanken.
Bei den ernsthaften Einsatzgebieten habe ich schon den Wocheneinkauf genannt, ggf. sollte auch ein Kindersitz möglich sein. Deshalb würde ich auf jeden Fall entweder auf ein Vierrad setzen oder eine Konstruktuin wie beim SR3. Kindersitz ist da zwar schwierig, aber ein Wocheneinkauf für zumindest 1-2 Personen oder Gepäck für ein Campingwochenende sollte gehen. Und ja, ich weiß, dass manche selbst in ihren Snoeks riesige Dimensionsspalten haben und da neben der Campingausrüstung und dem Kochgeschirr auch noch einen ganzen Kleiderschrank, Omas Sofagarnitur und Einbauküche samt Kühlkombination verstauen können. Aber für den Normalbürger muss die Lernkurve flach sein, das heißt: Einfach rein mit dem Gepäck. Fire and forget.
So ein Volks-VM möchte man sich auch nicht ans Bein binden, das soll auch mal ruhigen Gewissens ein paar Stunden wo abstellbar sein. Deshalb idealerweise so abschließbar, dass ein unbefugter ohne viel Aufwand nicht rankommt. Aber auch robust genug, um halbwegs sicher vor Vandalismus oder versehentlichem Vandalismus zu sein (Leute, die mit ihren Fingern gucken und dabei Spiegel abbrechen etc.)
Spaß und Coolness erwähnte ich bereits, ich finde, es sollte nicht wie ein verhindertes Auto aussehen, sondern klar und deutlich verkörpern: "Ich kann fahren, bin aber KEIN Auto. Aber ich bin cool. Ich mache Spaß. Und ich bin für ALLE zugänglich. Ich brauche keinen Führerschein. Versuch's doch mal!" Die Alleweders waren bei mir Acquired Taste, ich mochte sie anfangs gar nicht. Sofort verliebt war ich ins Design des SR3 und wie die aktuellen Protos jetzt rausgekommen sind, das ist ein Träumchen. Aber auch das QV macht richtig etwas her. Das GaloppE AZ ist schon eher zweckmäßig, geht schon wieder in die Richtung "verhindertes Auto", ist aber noch andersartig genug, um nicht gleich die Assoziation zu einem Microcar zu erwecken.
Und dann kommt noch die Infrastruktur. Beim Computerbeispiel war ein Merkmal des VC20, ohne das er nicht zum Volkscomputer geworden wäre, der Betrieb am normalen Fernseher, und der Grafikchip wurde so optimiert, dass das Bild auch noch auf sehr schlechten Geräten erkennbar war. Die Analogie herzu ist: Die deutsche Radinfrastruktur muss benutzbar sein. Nicht jeder wird mit dem Gedanken warm, auf der Fahrbahn zu fahren. Und dafür muss Glasscherben, Wurzeln, Schlaglöchern, Laub und engen Kurven Rechnung getragen werden. Der Wendekreis sollte möglichst klein gehalten, die Bodenfreiheit möglichst groß, das Fahrwerk robust und die Bereifung pannensicher sein.
Der letzte Punkt ist die Verfügbarkeit. Analog zum Verkauf des VC20 bei Quelle und im Spielwarenhandel muss das Volks-VM nicht nur bei ein paar kleinen Händlern verkauft werden, sondern jede größere Stadt, die einen oder mehrere Fahrradläden hat, sollte irgendwo eine Bezugs- und Servicequelle dafür haben. Idealerweise auch immer mit 1-2 Vorführern vor Ort für Probefahrten.
Das Fazit der Betrachtungen ist, dass ich bei der Vorstellung eines potenziellen Volks-VM immer wieder in der Ecke des A6, des SR3, des GaloppE AZ ankomme. Produziert in Kooperation mit einem großen Player - keinem Risikokapitalgeber, der von der Sache nichts versteht, sondern jemand aus der Fahrradbranche. Standardmäßig e-unterstützt als 25er Pedelec, mit einer realistischen Reichweite bei mittlerer Unterstützung von standardmäßig 100km, optional bis 200km. Einem Motorsystem, das einen für Normalbürger nicht nach Baumarkt klingenden Namen hat und weit verbreitet ist - Bosch, Shimano. Trotzdem mit genug "Bastelpotenzial" für die dann neu geweckten Enthusiasten.
Vielleicht muss kein besonders niedriger Preis angestrebt werden und es kommt durch Inflation und Wirtschaftskrise auch wieder ein anderer Bezug zu hochpreisigen Sachen: Dass eben nicht alles in einer Wegwerfgesellschaft jederzeit verfügbar und billig ist und wenn was neues kommt, gleich weggeworfen werden muss. So ein VM kann man ja viele Jahre haben und gegenüber einem Auto rentiert sich das dann trotzdem noch. Auch zu aktuellen Preisen. Ich werde wohl mein A6 auch "bis zum auseinanderfallen" fahren, technisch noch etwas aufmotzen und SR3 und AZ lediglich weiter beobachten und ggf. testen. Und meine anderen Fahrräder gut in Schuss halten.
Ich sehe sowohl A6 als auch den Milan als eine Anschaffung für viele Jahre an. Und selbst das Scorpion, das dieses Jahr vielleicht 200km bekommen hat, bekommt ab dem nächsten Jahr einiges zu tun, denn mein Vater ist durch sein Trigo auch viel fitter geworden und kommt da jetzt drauf und wieder runter. Der freut sich schon, mit mir zusammen Touren machen zu können.
Wenn dieses Bewusstsein bei den Leuten ankommt, dann werden auch mehr bereit sein, für ein A6 oder einen SR3 10000 bis 15000€ auszugeben, weil sie nicht nur die Zahl und auf der anderen Seite "ein Fahrrad" sehen, sondern überlegen, ob es den Preis wert ist. Der Knackpunkt ist mittlerweile m.E. eher "unobtanium".
Bei den jungen Leuten sehe ich da viel Potenzial - "übers Wochenende zum Shoppen nach Amsterdam" oder jede Woche ausgehen ist längst nicht mehr so verbreitet wie bis 2019, hier haben nicht zuletzt die Corona-Maßnahmen durchaus zu dem von mir vorhergesehenen Gewöhnungseffekt gesorgt, denn es wird nachwievor mehr selbst organisiert und vor der Haustür unternommen und die aktuellen Ereignisse sorgen dafür, dass sich das mehr oder weniger verstetigt.
Und da wird sich über die Zeit einiges entwickeln.