8. Tag
Turku (SF) – Espoo (SF)
176 km
Die zweite Woche der Tour beginnt am frühen Sonntagmorgen. Um sechs Uhr nähern wir uns der finnischen Küste. Die Sonne scheint, kleinere Inseln und Buchten wechseln sich ab, ein wenig wirkt es wie der Schärgarten Stockholms, den wir am Vorabend verlassen haben, nur alles ein wenig flacher.
Punkt sieben liegt die Fähre schon am Kai und wir sind zum Aufbruch bereit. Es ist ja schon das dritte Mal, das wir ein Fährschiff verlassen, da stellt sich eine gewisse Routine ein. Diesmal gelingt uns ein eleganter Aufbruch, denn irgendwie kommen wir an etlichen Autos vorbei schnell zur Ausfahrt – im Velomobil macht das eine Menge aus, den hunderte von Autofahrern lassen schon die Motoren an, sobald sich vorn die ersten Bewegungen erkennen lassen. Wer nicht in einer Abgaswolke eingehen möchte, sollte zusehen, rauszukommen. Am Ausgang des Fährhafens warten bereits die ersten beiden finnischen Velomobilisten; kurze Zeit später stoßen zwei weitere dazu. Wir nehmen uns Zeit für einen ausgedehnten Schnack, wollen sowieso auf den Besenwagen warten, in dem vom Vorabend noch Ninas Quest verstaut ist. Noch ein Riders Meeting, damit die Finnen wissen was geplant ist, die Einrichtung der Benzinkasse für den Besenwagen, Photos von allen durch alle und wir rollen los.
Zunächst geht es am Stadthafen (mit den für die Ostseestädte typischen alten Seglern) vorbei in die Stadt und auf die Ausfallstraße nach Osten. Der Morgen ist ziemlich grau, wir fahren dunkleren Wolken entgegen, seit Lübeck eigentlich zum ersten Mal auf dieser Reise. Turku selbst schläft um diese Sonntagmorgenstunde noch – keine Chance, an einem Café oder anderem Frühstücksplatz etwas zu Essen zu bekommen. Unsere finnischen Freunde haben jedoch gesagt, hinterm Ortsausgang würden wir auf einen ABCD treffen; Tankstelle, Supermarkt, Café und Restaurant in Einem. So ist es auch, und praktischerweise geht ein Schauer nieder, als wir gerade reingegangen sind. Auf diese Weise drängelt auch niemand beim Frühstück, die Vorräte werden sorgfältig ergänzt und der Schauer zieht unter munterem Geplauder der Velomobilisten vorbei.
Es sollte nicht der einzige Regenguss dieses Morgens bleiben, doch die Niederschläge hielten sich insgesamt in Grenzen. Einige hatten ihre Hauben aus dem Besenwagen geholt in Erwartung eines Regentages. 176 km im Regen fahren sich mit Haube zweifellos entspannter. Für Harry ändert sich nichts. Er fährt sowieso jeden Tag mit Haube, schon um die Sonnencreme zu sparen, die wir anderen als Ballastgewicht mitschleppen mussten.
Ich lasse die Haube weg, es wird schon nicht schlimm werden, und so war es auch. Einmal noch habe ich in Fahrt den Schaumdeckel rausgezogen und die Rennkappe mit der Baseballkappe vertauscht, weil diese mit ihrem langen Schirm die Brille trockener hält. Selbst bei dieser Gelegenheit zieht der Regen nach 10 Minuten vorüber und ich kann offen weiter fahren.
Die Landschaft ist flacher und irgendwie leerer als zuletzt in Schweden, auch nicht so proper. Wir sehen eine Reihe von Häusern am Straßenrand, denen seit etlichen Jahren ein Anstrich fehlt, andere sind verlassen und zeigen sich in verschiedenen Stadien des Verfalls. Die Straße ist ruhig, wir sind längst von der Hauptstraße abgebogen, aber der Belag ist recht rau. So geht es zügig über Land – ich fahre eine Zeit lang mit Pier zusammen, dem jüngsten Teilnehmer der Tour. Bald ist die Sonne wieder da, der Himmel klart auf und Kaffeedurst stellt sich ein. Ein Dörfchen kommt in Sicht und, sieh da, an einer Ecke lockt eine Kaffeebude, die offenbar bereits eine Anzahl Einheimischer angezogen hat, den Autos nach zu urteilen, die vor der Tür stehen. Ich biege ein, Pier ebenso, einige Minuten später sind wir schon eine kleine Gruppe, der die Eingeborenen mit ratloser Neugier entgegen sehen. An sich ist der Finne kein Mensch spontaner Regungen, doch es vergeht keine Viertelstunde, da haben sich die ersten von ihren Sitzen gelöst und umstehen die Velomobile, während wir unseren Kaffee schlürfen und etwas Gebäck dazu essen. Bald sind alle im Bilde worum es sich hier handelt, und die Fahrt kann weiter gehen. Mehr flaches oder leicht hügeliges Finnland folgt, rasch haben wir den Rhythmus verinnerlicht: sanfte, langgezogene Steigung, leichte Kurve nach links oder nach rechts, kleines Wäldchen, vielleicht noch eine leichte Kurve und die sanfte Abfahrt, meist geradeaus, während voraus schon die nächste sanfte, langgezogene Steigung zu sehen ist.
So geht es bis zum Mittag, und wenn eine Steigung mal etwas weniger sanft ausfällt, ist das schon aufregend. Zu Mittag fällt die Tour einer nach dem anderen in Somero ein, die Route lässt aber kein pulsierendes Zentrum irgendwo erkennen, sondern droht, mit dem nächsten Abzweig wieder aus dem Ort heraus zu führen; also bleibt nur der ABCD mit seiner kleinen Terrasse am Restaurant. Das Essen ist nicht schlecht für ein Tankstellensupermarktimbisslokal, und man sitzt gut, kann sich gegenseitig ein wenig aufziehen und im Blick behalten, wer wohl als nächster ankommen wird, und das werden alle sein, denn die Route verläuft vor unserer Nase und wir sind gleichzeitig heute morgen abgefahren.
Nachmittags setzt sich die Erfahrung des Vormittags fort, das Land ist immer noch weit und ruhig, der Verkehr auch Sonntag nachmittags gering, nur die Hügel werden bisweilen etwas höher. Bemerkenswert ist die Zahl der Menschen, die am Straßenrand auf uns zu warten scheinen, winken, Kinder hochheben oder fotografieren. Irgendwie muss man hier Bescheid wissen, dass die Tour vorbeikommt, unsere finnischen Freunde haben wohl etwas Medienarbeit betrieben. Ich habe bestimmt 5 oder 6 solcher Situationen an diesem Nachmittag passiert.
Dann wiederum sehe ich links, vor der Brücke über einen See, einige Velomobile geparkt, darunter zwei von uns – keine Situation, an der kein Tourkapitän einfach vorbei rauscht, auch wenn Nina, die sich gerade vor mir befindet, stur durchzieht. Zwei weitere finnischen Velomobilisten aus der Gegend stehen dort mit Milan und Mango, um uns zu treffen und ein Schwätzchen zu halten. Also wieder ein halbes Stündchen plaudern, es läuft ja gut und der Tag hat ja nur 176 km.
Bald kommt Helsinki näher, erkennbar auch daran, dass der Verkehr zunimmt. Die nun größere Straße mündet schließlich in eine Autobahn, wir biegen leicht nach links weg und fahren auf der wohl alten Straße weiter, der Straße nach Helsinki vor dem Bau der Autobahn. Das ist praktisch, denn nun gibt es so gut wie keinen Verkehr mehr, und die Straße verfügt über brandneuen und glatten Teer, den besten auf der gesamten Tour. Dafür nehmen nun die Hügel an Höhe und Steigungsgrad zu; die Annäherung an Helsinki erinnert ein wenig an das Stockholme Umland. Zum ersten Mal seit der Ankunft in Finnland kann man Felsen am Wegesrand sehen. Die Fahrt ist nun rauschend oder kletternd, denn es geht beständig rauf und runter, lässt sich aber gut fahren, so gut, dass ich völlig vergesse, ein paar Stücke Teer zu filmen. Nun wird auch die Besiedlung dichter, dann auch der Verkehr, neben der Straße tauchen großzügige Radwege auf, die sich durch die Landschaft schwingen, aber nicht klar erkennen lassen, wohin sie führen, wenn sie Straßen unterqueren und Häusergruppen umgehen. Da ist es besser, auf der Straße zu bleiben, denn jetzt muss gelegentlich abgebogen werden, Brücken über andere Straßen sind zu nehmen, ohne dass ich sehen könnte, ob die da kreuz und quer laufenden Radwege diese Richtungsänderungen wohl mitmachen würden.
Bevor ich diese Überlegungen im Quest vertiefen kann, schwenkt die Route auch schon wieder ab, einen kleinen Berg hoch und durch den Wald, und als es wieder abwärts geht, ist auch schon der See und an diesem unser Campingplatz erreicht. Es ist vier Uhr als Nina, Lars und ich an der Eingangspforte stehen und uns einweisen lassen. Wir haben die Zeltwiese, es gibt viel Platz und auch sonst ist nicht viel los. Wir sind nicht die ersten, aber auch längst nicht die letzten, doch es dauert nicht lange, dann sind alle da, die Zelte stehen, Wäsche wiegt sich an den Leinen. Es ist hier verboten, Leinen zu spannen und Wäsche aufzuhängen – wir machen es trotzdem, falls jemand Anstoß nimmt ist klar, dies ist ja keine Wäsche, sondern eine Anlage zur Humansalzerzeugung – ganz feines aromatisches Salz, das nach Trocknung von den aufgehängten Stoffen geschabt wird und auf den Märkten Asiens höchste Preise erzielt.
Während sich so über neue Produkte und glänzende Marketingperspektiven debattieren lässt, genießen wir das übliche Anlegebier. Der Rezeptionist hält es in Flaschen bereit, darf sie uns aber nicht im Ganzen verkaufen, sondern muss den Inhalt in einen Plastikbecher füllen, den wir auf seiner Terrasse zu leeren haben. So geschieht es.
Weitere finnischen Fahrer stoßen zu uns, einer bringt ein gewaltiges High-Racer Fatbike, ein anderer zeigt uns sein selbst entworfenes Velomobil auf der Basis eines Trikes, mit Seiteneinstieg. Das Modell soll in Serie gehen, der Käufer kann wählen, an welcher Seite er den großen Einstieg haben möchte. In keinem anderen Land auf dieser Reise haben wir schon jetzt so viele Velomobil- und Liegeradfahrer getroffen wie hier in Finnland – morgen, in Helsinki, werden weitere dazu kommen.
Munter vergeht die Zeit bis zum großen Ereignis am Abend, dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Das wollen wir nicht verpassen. Ein Spähtrupp hat am See ein Lokal ausgemacht, das am frühen Abend schließt, konnte aber in geschickten Verhandlungen erreichen, dass Küche und Bar wieder geöffnet werden, wenn wir nur genug Personen bringen und ausreichend essen und trinken. Diese Bedingungen bilden bekanntermaßen für uns keine Hürde, die wir nicht locker überwinden könnten, und so sehen wir das Spiel bei leckerem Essen, es gibt dann noch Nachschläge und Zugaben, bis wirklich kein Lachs mehr da ist, und Bier ist auch genug vorhanden; die Chefin steckt sogar die Umstände der Verlängerung weg ohne Wirkungstreffer zu zeigen, solange wir nur genug trinken.
So gesättigt und nachhaltig hydriert, kehren wir nach Spielende und Titelgewinn im Dunkel der Nacht zu unseren Zelten zurück. Der kurzzeitig aufgekommene Impuls eines Velomobilkorso wurde noch verworfen, unseren niederländischen Freunden auf der Tour würde das Herz bluten. So freuen wir uns eher still und gegen 1:15 sind im Camp alle Lichter gelöscht und nichts durchbricht die Stille der finnischen Nacht als die nasalen Warnlaute unserer Wächter, mit denen sie die wilden Tiere auf Abstand halten.