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Also, bei meinem Stammlokal wurde es zwar bis kurz vor Lockdown ruhiger, aber es war noch im Rahmen der üblichen Fluktuationen im Februar/März. Man hat von allein Abstand gehalten, sich nicht die Hand gegeben und ist einzeln tischweise zum Buffet gegangen. Ich war dort auch noch bis zum Schluss essen.
Vielleicht wäre es hier in Deutschland auch nicht ganz so schlimm gekommen.
Ich fürchte das man im Moment (und nachlaufend in den nächsten Wochen) leider gut sehen kann das es auch in Deutschland ohne ausreichende Maßnahmen schlimm kommt - und als logische Folgerung vermutlich auch im Frühjahr schon so hätte kommen können.
Vielleicht sollte man das ganze auch als Chance begreifen. Man muss jetzt aufhören, sich falsche Hoffnungen zu machen und Eulen nach Athen zu tragen. Unsere Stadthalle wirbt z.B. immer noch auf ihrer Leuchtreklame mit einem Konzert im April. Außerdem heißt es nur "Öffentlicher Eislauf findet bis Ende Dezember nicht statt" - anstatt, realistischer, "findet nicht mehr statt". Man wirbt mit der "Lütten Sail" im August 2021. Das sind in meinen Augen potemkinsche Dörfer, ein theaterkulissen-artiger Anschein eines öffentlichen Lebens und die Hoffnung, dass es irgendwann wieder Normalität wie früher geben wird, womit ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr rechne. Ich habe bereits vor ein paar Seiten hier über meine Zukunftsvision vom digitalen Neo-Biedermeier geschrieben. Vielleicht sollte man die Scheu vor einer solchen Welt verlieren. Das könnte dann auch die von mir mit Bedenken gesehenen Kollateralschäden ein wenig eindämmen.
Ich gehe soweit mit dir konform das eine Rückkehr zur Normalität in dem von den Werbungen da oben suggerierten Zeitrahmen wohl eher unwahrscheinlich ist. Entgegen der Meinung und Hoffnung meines Freundes rechne ich z.B. auch nicht das nächsten Sommer Festivals wie Wacken stattfinden werden. Und ja, das kann und sollte man ruhig auch als Gelegenheit begreifen neue Möglichkeiten zu erschließen.
Das das auf ewig so bleiben wird halte ich aber für nicht notwendig und deine Zukunftsvision des digitalen Neo-Biedermeiers ist und bleibt in Teilen meine ganz persönliche Horrorvision. Digital ist eine tolle Sachen und in einigen Teilen nutzen wir die Möglichkeiten definitiv noch viel zu wenig bzw. nicht aus (Bildung ist nur einer davon), andere wird es aber nie ersetzen können oder höchstens ergänzen können. Ein paar Kommentare zu konkreten Vorstellungen von dir:
Bühnentechniker, Messebauer etc. könnten sich in Richtung VR fortbilden, Künstler ihre Konzerte auf Twitch, Oculus Venues, Magenta 360 etc. streamen. Das muss auch nicht kostenlos sein. Wenn da nicht der ganze logistische Rattenschwanz dranhängt, sondern ein Raum mit Greenscreen und die Band reicht, wird das automatisch auch günstiger und es kommt mehr beim Künstler an. Plus, es wird für kleine Nachwuchskünstler nochmal einfacher, sich im Showgeschäft zu behaupten. Ich schau mir immer wieder gern Streams bei Twitch an, wo sich Leute einfach mit der Gitarre hinters Mikro setzen und spielen und singen. Da spende ich dann auch immer gern etwas, wenn sie gut sind.
Das kann man nicht nur, das machen einige meiner Lieblingskünstler schon eifrig in verschiedener Ausprägung vom kleinen Livestream mit Gitarre vor dem Kamin bis zum voll-professionellen Konzert mit Light-Show und allem und kostenpflichtigem Stream - und ich nutze die Angebote auch eifrig und gern. Das ist nett und macht durchaus auch Spass, hat aber mit einem richtigen Live-Konzert vor Ort nicht das geringste zu tun und ist dafür in meinen Augen auch kein Ersatz. Und eines der ersten Dinge die ich nach einem eindämmen der Pandemie wenn die Impferei wie erhofft funktioniert tun werde ist für mich persönlich - trotz meines sonstigen Widerwillens gegen größere Menschenmengen - ein Besuch eines echten Live-Konzerts voller Menschen die um mich rum und mit mir tanzen, feiern und singen. Das Gefühl und die Hormone die das ausschüttet kannst du digital schlicht und einfach nicht nachbilden (nein, nicht einmal mit perfekter VR und entsprechender Ausrüstung bei allen Besuchern eines solchen "Live"-Konzerts - und davon sind wir noch Jahrzehnte entfernt).
Auswärts essen wird weiterhin benötigt, hier hoffe ich auf eine Streetfood-Revolution. Ich erinnere mich noch, dass kurz nach dem Mauerfall sofort auf sämtlichen Spielplätzen und in den Parkanlagen der Stadt die Pommesbuden auftauchten, wie aus dem Nichts. Das war eine kurze Zeitspanne, aber ich fand das damals großartig. Das kann gern wiederkommen. Und das beginnt schon. Schausteller fangen hier in der Region an, sich feste Standplätze zu suchen und dort ihre Leckereien zum mitnehmen anzubieten.
Streetfood ist eine tolle Sache und ich liebe schöne Streetfood-Stände, Pommes-Buden, etc. Ist aber etwas völlig anderes als Restaurants und beides hat seinen eigenen Reiz und sein eigenes Anwendungsfeld, genauso wie z.B. Biergärten die nochmal irgendwo dazwischen stehen.
Ein edles 5-Gänge-Menü oder eine Whisky-Dinner mit Unterhaltungsprogramm wird in einem Streetfood-Stand genausowenig stattfinden wie ein Restaurant das Erlebnis duplizieren kann sich an einer "Bude" was zu holen und ein Stück weiter mit dem Trike (oder anders) am Wasser zu sitzen und das zu genießen.
Beides auf seine eigene Art toll und ich würde beides vermissen wenn es das nicht mehr gäbe - ist aber Gott sei Dank IMHO komplett unrealistisch.
Betreiber von Freizeiteinrichtungen sollten auch schauen, wo sie in die neue Gesellschaftsordnung hinein passen. Das Miniatur-Wunderland in Hamburg könnte z.B. 360-Grad-Kameras mit Livestreams installieren und einen Tageszugang für 5 Euro verkaufen.
Naja, das entspricht dann aber ungefähr dem Unterschied zwischen DVD schauen und ein Theater besuchen - und auch da gibt es gute Gründe warum es beides gibt.
Und wie willst du Freizeitparks mit Achterbahnen und liebevoll eingerichteten Parkgeländen und Dekos wie den Europapark oder Freizeit- und Spaßbäder digitalisieren?
Nein, ich bleibe dabei: es ist gut sich in der jetzigen Situation Möglichkeiten zu suchen die auch im Moment funktionieren und es ist auch gut diese später mitzunehmen und weiter zu betreiben/vertiefen. Aber alles aus dem "vorher" als verloren und nicht wiederkommend abzuschreiben würde die Welt in meinen Augen ein riesiges Stück ärmer machen - und wird glücklicherweise hoffentlich auch nicht nötig sein.