Etappe 4 – Von Trient nach Gardone Riviera
Nun liege ich hier in meiner Zelle und versuche, den Tag zu rekapitulieren, während zu dieser späten Stunde draußen vor meinem verschlossenen Fenster vereinzelt die Autos vorbeirauschen.
Heute Morgen noch bin ich in einem Hotel südlich von Trient aufgewacht. Von meinem Zimmer dort kann ich die Landebahn eines Privatflughafens überblicken, auf dem gelegentlich Kleinflugzeuge und Helikopter starten. Nicht auszumalen, was man aus dieser erhabenen Perspektive in dieser Bergwelt entdecken könnte.
Doch ich will auf dem Boden bleiben, will mich nicht über die Berge erheben. Gebunden an die uns gegebenen Wege, mit drei Rädern fest am Boden (nach meinem Sturz am vergangenen Sonntag klingt das ein wenig ironisch) starten wir unsere letzte Etappe zum Gardasee in Richtung Süden.
Das Etschtal hat an dieser Stelle der Stadt Trient ein wenig Raum gelassen. Die umgebenden Bergwände sind weit entfernt und wirken nicht mehr ganz so mächtig wie noch am Tag zuvor. Die Industrie hat sich diesen Raum einverleibt. Nicht so, wie man es mancherorts vom Rheintal kennt, aber ausreichend, um zur bisher dominierenden Natur ein Kontrastprogramm zu bieten. Aber auch hier hat man den Radfahrern stets passable Wege bereitet, um keine ungewollten Berührungspunkte zu bieten.
Nach ein paar Kilometern verjüngt sich das Tal wieder, die Berge rücken enger zusammen und verdrängen die Industrieflächen. Erste Burgen tauchen aus dem diesigen Grau der Ferne auf. Im Tal setzt sich nun die Monokultur durch. Mir fällt auf, dass hier wirklich jeder Quadratmeter für den Weinanbau genutzt wird. Die Reben stehen streng in Reih und Glied auf ebenen Feldern soweit das Auge reicht. Auch auf dem drei Meter breiten Streifen zwischen Radweg und Autobahn steht der Wein Spalier. Wie diese Sorte wohl schmecken mag?
Es fallen mir unterwegs immer wieder Dinge auf, die ich zuvor nie beachtet habe. Stelle mir Fragen, suche nach Antworten. Der Geist ist auch auf Reisen, während der Körper monoton seine Arbeit verrichtet.
Ja, die Plackerei hat eine durchaus gewollte sportliche Komponente, aber dem Trainingsehrgeiz alleine könnte ich genauso gut auf einem Smarttrainer nachgehen. Was macht Radreisen für mich so besonders?
„Der Weg ist das Ziel“, lautet eine altbekannte Antwort. Ich sage lieber:
Der Weg öffnet den Horizont.
Ich wäre nicht der erste, der nach einer intensiv erlebten Italienreise mit neuen Erkenntnissen zurückkehrt. Wie unwissend war ich noch vor drei Tagen, als wir diese Tour in Ehrwald begonnen haben. Und wie unwissend mag ich jetzt sein angesichts der mir bevorstehenden Rückreise?
Mit dem Fahrrad „erfährt“ man eine Region, die man mit dem Auto lediglich durchfährt. Man spürt das Wetter, man riecht die Pflanzen, man spricht mit Menschen. Und all dies ändert sich im Laufe der Kilometer. Mal subtil, mal plötzlich.
Der LKW schneidet mich und hüllt mich in eine rußige Abgaswolke. Der Puls ist hoch, der Körper verlangt nach zusätzlichem Sauerstoff, aber ich darf jetzt nicht einatmen. Im Tunnelblick strample ich in hoher Trittfrequenz entlang der Begrenzungslinie der Straße zwischen einer statischen steinernen und einer dynamischen blechernen Wand. Blitzschnell wechsle ich meine Fahrweise zwischen Selbstbehauptung und Selbstschutz.
Wir haben das Etschtal und den sicheren Radweg verlassen und sind über die Moränenhügel bei Rivoli Veronese via Landstraße und Schotterpiste nach Garda gelangt. Hier auf der Uferstraße trifft uns nun der Tourismus mit voller Wucht. Auf dem Weg nach Torri del Benaco teilten wir uns die Straße mit Autos, Bussen, LKWs, Rollern und Motorrädern. Augen zu und durch. Durch die Bäume, die das Ufer säumen, ist zwar der Gardasee zu erkennen, aber der Verkehr erlaubt kein Innehalten. Er gibt den Puls vor, der die Region mit Touristen versorgt. So erreichte meine bewusste Wahrnehmung den Gardasee erst kurz vor Torri del Benaco, als ein kleiner Uferweg für Fahrräder und Fußgänger von der Uferstraße abzweigte. Dort nutzen wir eine kurze Pause, um Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen.
In Torri warten wir auf die Autofähre, die uns nach Maderno übersetzt. Von dort haben wir nur noch wenige Kilometer zum Ziel nach Gardone Riviera. Die Uferstraße auf der Westseite des Sees steht in Sachen Verkehr dem Ostufer in nichts nach. Unsere Unterkunft auf der anderen Straßenseite ist schließlich nur durch einen beherzten Eingriff in den fließenden Verkehr möglich.
In der Dusche der von Nonnen geführten Villa Maria Elisabetta wasche ich mir die Strapazen der Reise vom Leib. Der Geist bleibt weiter auf Reisen. Und so liege ich in meiner Zelle des Klosters und schreibe diese Zeilen…
Komoot:
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