Thema Lenkgeometrie

J

_jenne

Hei,
Stefan schrieb unter "Verkorkste Geometrie" zum Groenefeld-Lieger:
<i> Ich vermute, dass das Rad zuwenig Nachlauf hat. Und der Steuerwinkel könnte auch etwas flacher werden, um das ganze etwas zu beruhigen.
Verkorkste Geometrie heisst hier: Für dieses Rad (bei vorgegebenem Sitzwinkel, Sitzhöhe, Radstand, Schwerpunktlage, etc) ist die Lenkgeometrie unpassend. Wobei wir wieder beim Thema sind. Steiler Lenkkopfwinkel ist nicht das Allheilmittel. Es kommt immer auf den Einzelfall an. </i>

Ich habe gerade mit Walter Zorn interessanten Kontakt und darf auch von seinen Emails an mich etwas hier reinbringen. Es bestätigt auch meine Ansicht, nur Walter hat zudem noch praktische Erfahrung. (Auch zu anderen Themen hat er mir viel Interessantes geschrieben, ein kluger Kopf! Hier schneide ich aber nur einige Teile zum Thema Lenkgeometrie heraus.)
j.
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> Du kennst dich ja mit dem
> steilen Lenkwinkel aus, bist quasi der Erfinder davon, oder? Wie würdest du
> die Vorteile des steilen Lenkwinkels beschreiben?

Naja, ich habe bei Beginn von Konstruktion und Bau der KO 2 (Frühjahr
1995) einfach vesucht, die Drehmomente, die auf die Lenkachse wirken,
rechnerisch zu kalkulieren. Es ist im wesentlichen die Summe aus 3
Drehmomenten, bedingt durch: 1. Nachlauf (stabilisierend), 2.
Kreiselkräfte (stabilisierend), 3. "Fahrzeug-Absenkung" beim
Einschlagen der Lenkung (destabilisierend). Steilerer Steuerkopfwinkel
bedeutet weniger Fahrzeug-Absenkung, damit weniger Destabilisierung
und größerer Freiraum zur Wahl des Nachlauf-Wertes.
Zudem wandert bei steilerem Winkel die Lenkachse "im Vorderrad" weiter
nach vorne, sodaß sie bei einer Laufradverkleidung näher am Druckpunkt
bei Seitenwind zu liegen kommt --> weniger Seitenwindeinflüsse.
Also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

> Ich schätze, den werden
> irgendwann noch viele Liegeradhersteller "entdecken".

Ja. Ich zumindest erkläre seit Jahren die Vorteile sehr offen, wenn
ich danach gefragt werde.

> Man orientiert sich
> noch zu sehr an Upright-Lenkwinkeln, die mit kleinem Laufrad und
> proportional verkleinertem Gabelvorlauf zu einer eher abkippenden Lenkung
> führen, was ja mit 75-80 Grad behoben zu sein scheint.

Prinzipiell: je steiler, desto besser. Allerdings nimmt der
"Deichseleffekt" der Lenkung leider auch zu. Daher habe ich schon bei
der KO 2 das Vorderrad so weit wie möglich "in Richtung Fahrer"
gesetzt.
Dabei bot sich dann wiederum als elegante, bei der KO 3 (1996)
verwirklichte Lösung an, die untere Sitzfläche so um das schräg
ansteigende Rahmenrohr herumzubauen, daß letzteres die von mir sowieso
gewollte "Damm-Nase" ausbildete.

........

> Wer kam denn bei euch auf den steilen Lenkwinkel?

Ich hatte mich, wie gesagt, bei der KO 2 mit diesen Überlegungen befaßt
und sie verwirklicht, der Erfolg war durchschlagend.
Schon die ersten Probefahrt-Meter zeigten mir: jegliches "Eigenleben"
des Rades war verschwunden, ich hatte sofort das Gefühl, das Rad beim
Fahren perfekt "im Griff zu haben". Freihändigfahren war plötzlich
verblüffend einfach (nach etwas Übung sogar aus dem Stillstand heraus
möglich). Bei all dem spielte aber auch der gegenüber der KO 1
wesentlich steifer gewordene Rahmen eine Rolle, denn nach den
Erfahrungen mit der KO 1 konnte ich für die Statik-Kalkulation
wesentlich bessere Krafteinleitungs-Annahmen machen. Thomas Schott war
nicht lange danach der erste, der dann ein Rad mit ähnlicher
Gesamt-Geometrie (aber sehr simpel aus Vierkant-Stahlrohr) baute.

> Oder habt ihr das von
> Birk? Wer hatte ihn zuerst?

Ist schon eine heikle Frage :)
Ich hatte die KO 2 auf den Aachener Liegeradtagen 1995 "noch mit
warmen Lötnähten" "der Öffentlichkeit vorgestellt". Das Rad hat dort
ziemlich viel Aufsehen erregt (obwohl ich nicht an den Rennen
teilgenommen habe).
Damals gab's noch keine Birktieflieger, soweit ich weiß, noch nicht
mal irgendeinen Prototypen.
Dennoch halte ich es für gut möglich, daß die Birk-Leute zufällig und
aufgrund ähnlicher Überlegungen zu ähnlichen Lösungen gekommen sind,
ohne mein Rad im Detail zu kennen (falls sie es überhaupt kannten).

...

> Hat der steile Lenkwinkel eigentlich auch bei hohem Tempo noch Vorteile?

In geringerem Ausmaß als bei niedrigem. Aber subjektiv immer noch
spürbar. Dafür spielen dann Rahmensteifigkeit und Lenkungseinflüsse
durch die Massenträgheit der sich gegenläufig bewegenden Beine eine
große Rolle. Hieran arbeite ich zur Zeit (KO VI).

...

> Würde der steile Lenkwinkel auch bei Uprights noch einiges verbessern
> können?

Ist halt mit herkömmlichen Mitteln nicht zu erreichen.
Das Vorderrad läßt sich nicht weiter nach hinten setzen. Also bedeutet
steilerer Winkel, daß die Lenkachse bezüglich dem Lenker weiter nach
vorne wandert ==> weil sich beim Upright der Fahrer auf den Lenker
stützen muß und somit auf diesen eine nach vorne gerichtete
Kraftkomponente einleitet, würde ein hinter der Lenkachse befindlicher
Lenker unter dieser Kraft sich seitlich wegdrehen wollen ==> instabiles
Lenkverhalten. (Zur Verdeutlichung: so wie die Schwerkraft ein stehendes
Pendel aus seiner Lage zu drücken versucht. Ein stehendes Pendel ist
aufgrund der Schwerkraft instabil, ein hängendes stabil. Lenkereinheit =
Pendel, nach vorne geringete Abstützkraft = Schwerkraft.)
Also müssen die Upright-Konstrukteure einen Kompromiß zwischen nicht zu
flachem Lenkwinkel und dennoch möglichst weit
v o r der Lenkachse befindlichem Lenker (= mehr abstützkraft-bedingte
Stabilität) suchen.

..........

Zum Nachlauf:
Weniger Nachlauf bedeutet in erster Linie, daß sich die Lenkung mit
geringeren Kräften "betätigen" läßt, nachlaufbedingte Rückstellmomente
wie beim Auto gibt es beim einspurigen Fahrzeug, das sich ja in die
Kurve legt, fast n i c h t . Mit steilerem Steuerkopfwinkel vermeidet
man deshalb einfacher, daß das destabilisierende, auf die Lenkachse
wirkende Drehmoment (fahrzeugabsenkungs-bedingt) die Summe der beiden
stabilisierenden Drehmomente (nachlauf-bedingt plus
kreiselkräfte-bedingt) übersteigt, weil der Nachlauf nur gering
stabilisierend wirkt, passiert Letzteres selbst bei höherem Tempo recht
leicht.

........

<steiler Lenkwinkel am Liegerad>
> Wäre doch auch sicher für die höheren Räder vorteilhaft, oder?

Mit Sicherheit. Man muß bei der praktischen Umsetzung natürlich immer
Dinge wie tendeziell größere "Tillerlänge" berücksichtigen, weil ja die
nach vorne gekippte Lenkachse im Lenkerbereich einen größeren Abstand
zum Fahrer ausweisen würde. Weiter nach hinten verlegtes Vorderrad
wiederum bedeutet höheres "Kopfstandvermögen" ==> steiler Winkel
speziell bei direkt gelenkten Kurzliegern nicht unproblematisch.

........

> > Unidiscs (Laufradverkleidungen aus Stoff),
>
> Auch vorne problemlos?

Ja.
Bei dieser Lenkgeometrie kann ich sogar bei Seitensturm noch
einigermaßen (leicht wackelig, aber beherrschbar) freihändig fahren. Bei
"konventionellen" Geometrien müßte man das Rad zusehr gegen den Wind
lehnen, um die Lenkung in Geradeausstellung zu zwingen. Bei Böen wäre
dies natürlich unpraktikabel.
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Dazu noch etwas von Walter (finde ich alles sehr interessant!).
j.
..........................
> Ich hatte immer gedacht, dass der Nachlauf die entscheidende Komponente ist
> und die kreiselkräfte weniger ausmachen...

Soweit es um die "Betätigungskräfte" geht, lagst Du ja auch richtig. Für
das subjektive Fahrgefühl sind die Betätigungskräfte mitentscheidend,
allerdings spielen hier individueller Geschmack und Gewöhnung eine
wichtige Rolle.
Starke Fahrzeugabsenkung bedeutet, daß die Rückmeldung (per Lenker) über
die am Vorderradaufstandspunkt angreifenden Kräfte an den Fahrer vom
destabilisierenden Drehmoment, je nach Geschwindigkeit und
Lenkeinschlag, unterschiedlich stark überlagert wird ==>
unzuverlässigere Rückmeldung.
Dieser Effekt ist vorderradlast-abhängig und spielt daher vor allem bei
Kurzliegern bzw. Z-Frames eine wichtige Rolle, bei Langliegern viel
weniger.
 
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