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velomobil:berichte:fahrberichte_a-z:paris-brest-paris_mit_der_leitra
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velomobil:berichte:fahrberichte_a-z:paris-brest-paris_mit_der_leitra [2013/10/27 14:01] (aktuell) – Externe Bearbeitung 127.0.0.1
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 +======Paris-Brest-Paris mit der Leitra======
 +<sub>(Autor: [[http://www.velomobilforum.de/forum/member.php?u=1368|Carl Georg Rasmussen]] / Juni 2007 / Quelle: E-Mail)</sub>
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 +Paris-Brest-Paris im Velomobil
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 +Heutzutage wissen wir, dass sich Liegeräder ausgezeichnet für Langstrecken eignen, einfach weil sie im Vergleich zum „normalen“ Fahrrad sehr viel mehr Komfort bieten und empfindliche Körperteile schonen. Belastungen sind besser auf große Flächen verteilt und für lange Strecken ist die Sitzhaltung günstiger.
 +Als ich mich - vor 23 Jahren - zum ersten Mal in eines der anspruchsvollen Langstreckenrennen ‚Den store styrkeprøve’, (‚Die große Kraftprobe’ - 540 km Trondheim-Oslo), stürzte, wollte ich die Grenzen erfahren und testen, wie Liegeräder im Vergleich zu herkömmlichen, leichten Rennrädern bestehen würden.
 +Damals stand mir nur ein Prototyp der heutigen Leitra zur Verfügung, ein dreirädriges Liegerad mit Vollverkleidung. Es war das erste Mal überhaupt, dass jemand es wagte, mit einem Liegerad an diesem legendären norwegischen Radmarathon teilzunehmen.
 +Diese erste Prüfung verlief ausgezeichnet und spornte mich zu größeren Herausforderungen an. In verschiedenen Fahrradzeitschriften las ich von Europas größtem Langstreckenrennen: Paris-Brest-Paris (P-B-P). Es wurde berichtet, wie Teilnehmer auf die immense Erschöpfung reagierten und es wurde betont, dass die psychische Stärke ebenso entscheidend sei wie die physische.
 +Die Exklusivität dieser Veranstaltung wurde mir erst bewusst, als ich erfuhr, dass man sich zu diesem Lauf nicht einfach anmelden konnte. In Norwegen hatten die Veranstalter zunächst zurückhaltend reagiert, bevor ich mit einem Velomobil am Start antreten durfte. Immerhin hatte die ‚Gattung’ Liegerad bei diesem Rennen Premiere gehabt. Bei P-B-P war die Hürde aber eine ganz andere. Nicht dass die Franzosen etwas gegen Velomobile gehabt hätten. Nein, hier musste man sich für den endgültigen Lauf über die Teilnahme an verschiedenen Brevets von 200 km, 400 km und 600 km qualifizieren.
 +Es gab jedoch zu diesem Zeitpunkt keine Organisation in Dänemark, die autorisiert gewesen wäre, diese Qualifikationsläufe durchzuführen. Die nächstgelegene Organisation des ‚Les Randonneurs Mondiaux’ war in Schweden (‚Audax Nordique’). Eine ordnungsgemässe Qualifikation würde sich also wohl recht umständlich gestalten.
 +
 +**Erstes dänisches Team**
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 +Schließlich gelang es mir, eine kleine Gruppe von Radfahrern zusammenzutrommeln, die davon träumte, am P-B-P teilzunehmen, und so gründeten wir im Jahre 1987 ein dänisches Team für diesen Lauf. Mit Hilfe von Audax Nordique wurde ein Programm für eine Qualifikation hier in Dänemark erstellt. Die Zeitkontrollen sollten per Stempel an bestimmten Tankstellen vorgenommen werden. Wir absolvierten unter anderem Wochenendtouren, die uns von Kopenhagen nach Esbjerg  oder von Kopenhagen nach Sønderborg und zurück führten. 
 +Als sich der große Tag näherte hatte sich eine Gruppe von insgesamt 13 Fahrern für die Teilnahme an P-B-P qualifiziert. Es waren ausschließlich Männer, obwohl ursprünglich auch eine starke Frau an den Brevets teilgenommen hatte. Wir konnten die EDV-Firma UNISYS als Sponsor gewinnen und wurden mit passenden Trikots ausstaffiert.
 +Ich war mit Abstand der Älteste in der Gruppe, wurde aber deswegen in keinster Weise diskriminiert.
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 +**Eine Schnecke unterwegs**
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 +Während meine Mitfahrer einen Flug nach Paris buchten, wollte ich den ganzen Weg mit der Leitra zurücklegen.
 +Meine Anreise fiel terminlich so günstig, dass ich unterwegs in Südjytland halt machen konnte, um an der „Tour de Als“ teilzunehmen, einem Rennen, bei dem es galt, einem Schrittmacher mit 32 km/h zu folgen.
 +Am darauffolgenden Tag, einem Montagmorgen, startete ich von Sønderborg aus Richtung Paris.
 +Meine Fahrzeit betrug durchschnittlich 12 Stunden pro Tag. Die Bergetappen durch die Ardennen absolvierte ich bei strahlendem Sonnenschein und ich genoss es, mich zur Erholung an den Böschungen im Gras auszustrecken. Der letzte Stopp vor Paris war Reims. Die Dunkelheit brach über der Champagne ein und es war zu spät, eine günstige Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Deshalb musste ich mit einer Bank in einem kleinen Hain am Fluss vorliebnehmen.
 +Noch vor Sonnenaufgang wurde ich von Stimmen am Fluss geweckt. Es waren einige Angler, die so früh schon ihr Glück versuchten. Sie fachsimpelten miteinander über die Wahrscheinlichkeit für einen guten Fang. Die Luft war feucht und mein Schlafsack klamm vom Tau. Plötzlich bemerkte ich etwas, das hinten an meinem Hals saugte. Vampire? Hier in Reims?
 +Schnell fasste ich mit der Hand unter den Nacken und hielt eine braune klebrige Masse zwischen den Fingern.
 +Eine dicke, fette Schnecke! Ich sprang aus dem Schlafsack und lief runter zum Fluss, um ein wenig Wasser über Gesicht und Hals rinnen zu lassen. Als ich zur Leitra zurückkehrte und die Haube hochklappte, war der gesamte Innenraum dicht mit Schneckenhäusern und Schleimspuren übersäht. Auch Schnecken brauchen einen Unterschlupf für die Nacht.
 +
 +Ich kam schliesslich am Freitagnachmittag zur Hauptverkehrszeit in Paris an. Ich fühlte mich nun gut vertraut mit der Leistungsfähigkeit von Körper und Fahrzeug. Obwohl ich abends immer müde gewesen war, hatte ich doch das sichere Gefühl, dass ich jedesmal noch ein gutes Stück von der totalen Erschöpfung entfernt gewesen war. 
 +Nun konnte ich mich noch ein ganzes Wochenende ausruhen, bevor es schließlich ernst werden sollte.
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 +**Fahrradkontrolle**
 +
 +Der Rest meiner Mannschaft fand sich im Laufe des Samstags in Paris ein. Wir quartierten uns in einem billigen, algerischen Hotel am Montmatre ein. Am Sonntagnachmittag radelten wir durch die Stadt hinaus zur technischen Kontrolle. Die Leitra passierte sie ohne Probleme. Glücklicherweise hatte ich mich mit den Regeln gründlich vertraut gemacht. So war sie mit vorderen und hinterem Schutzblechen in der vorgeschriebenen Größe ausgestattet, d.h. dass das vordere Schutzblech mindestens 90 grad und das hintere 180 Grad des Reifens abdeckte.
 +Die Beleuchtungskontrolle war besonders wichtig. Man musste genügend Batterien für die gesamte Tour mit sich führen. Wenn wider Erwarten doch der Strom ausginge und man genötigt wäre, bei einem der Checkpoints der Organisatoren oder bei einer ‚Patrouille’ neue Batterien zu kaufen, würde dies mit einer Strafstunde geahndet.
 +Man konnte zwischen 3 Startzeiten wählen, je nachdem wie man seine persönlich Fahrzeit einschätzte. Den Erststartenden wurde ein Vorsprung von 12 Stunden gegenüber den Zuletztstartenden gewährt.
 +Ich wählte die mittlere, bei der die Fahrzeit rund 84 Stunden betragen sollte.
 +Am Abend vor dem großen Tag machten wir es uns im Hotelzimmer im Bett, auf Stühlen oder auf dem Boden gemütlich.
 +Das war alles andere als luxuriös, denn die Zimmer waren bis an die Schmerzgrenze belegt. Wir sollten ja auch nur übernachten und ein wenig Kräfte sammeln. Aber die Nachtruhe bleibt aus. Gegen halb drei poltert es auf der Treppe, Geschwätz und Schritte, das Licht wird an- und ausgeschaltet.
 +Endlich wird es still und man hört nur noch den kräftigen Regen, der auf das Dach prasselt. Ich krieche unter die Bettdecke und freue mich, dass ich nicht bei der ersten Starttruppe bin. Fast alle Dänen starten um 4:00 morgens bei Regen und absoluter Finsternis. Meine Startzeit ist 10:00.
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 +**Jetzt geht es los**
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 +Die ersten 50 km raus aus der Stadt werden wir von der Pariser Gendarmerie auf Motorrädern eskortiert. Der ganze Pulk ist zunächst noch recht dicht beisammen und die Geschwindigkeit ist gemäßigt. Das Publikum winkt und wünscht „Gute Reise“.
 +Ein wenig weiter außerhalb beginnen die Steigungen und der Kurs führt über ruhigere Strassen. Das Feld zieht sich auseinander und nur noch ab und zu tauchen vor oder hinter mir kleine Gruppen auf. Wir folgen den ‚P-B-P’- Pfeilen, um nicht vom Weg abzukommen. Die Route führt uns durch die Dörfer und die hügelige Landschaft. Von Paris aus streckt sich in nordwestlicher Richtung ein Höhenzug und die Route ist absichtlich so gewählt, dass man so viele Steigungen wie möglich geniessen darf. Die Herausforderung an P-B-P ist wohl in der Tat weniger die Gesamtlänge als das Streckenprofil.
 +
 +Gelegentlich geht es auf schnurgerader Bahn in verrücktem Tempo bergab. Ich bremse so wenig wie möglich, um den Schwung zu nutzen. Schliesslich will man die Energie ja nur ungern als Wärme verpuffen lassen. Plötzlich kommt eine Kurve hinter einem Berghang, schärfer als erwartet. Vollbremsung, das Hinterrad verliert die Haftung und blockiert. Im Nu schert das Heck aus, die Leitra kippt und schlittert auf der Seite liegend quer über den Weg und in die Leitplanke.
 +Mit einem Knall sind Dach und Heckklappe eingedrückt und ich denke für einige Sekunden ans Aufgeben: Na, das war’s wohl. Jetzt kannst du die Trümmer zusammenkratzen und heimwärts ziehen. Und das nach nur 200 km. 
 +Die Leitplanke hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt. Ohne sie wäre ich nämlich in einer tiefen Schlucht geendet. Ich mache mich an die Schadensaufnahme. Das Dach kann wieder herausgedrückt werden. Die Heckklappe ist zerbeult, aber sie ist kein wesentliches Bauteil. Räder und Lenkgestänge haben den Unfall weitestgehend unbeschadet überstanden. Ich selbst bin unverletzt, abgesehen vom linken Ellbogen, den ich mir auf dem Asphalt aufgeschürft habe.
 +Eine Stunde später, nach einer notdürftigen Reparatur mit Klebeband und mit einem Pflaster am Ellbogen, bin ich wieder unterwegs. 
 +Nur das Hinterrad hüpft ein wenig, weil die Blockierbremsung für eine ‚Bremsplatte’ auf dem Reifen gesorgt hat.
 +Der Unfall wäre sicher weniger glimpflich verlaufen, hätte ich nicht den Rahmen und die Verkleidung der Leitra zu meinem Schutz gehabt. Später höre ich, dass drei andere Dänen gestürzt waren und schwer verletzt wurden. Für sie endete die Tour im Krankenhaus.
 +
 +**Wer zu letzt lacht**
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 +Als wir uns dem Ärmelkanal nähern, kommt Wind auf. Die Landschaft ist flach, so dass ich Tempo machen kann. Hier im Gegenwind kann mir keiner der anderen Teilnehmer folgen. Es ist einfach mein Tag und ich freue mich besonders, als ich einen Amerikaner überhole, der sich noch am Start über die Leitra lustig gemacht hatte. „How far do you think you can go in that box?“ hatte er gerufen, während er sich vor Lachen den Bauch gehalten hatte. Ich ziehe an ihm vorbei, ohne ihn je wiederzusehen. Als es - immer noch ohne Schlaf - in die dritte Nacht geht, rückt das Ziel endlich in erreichbare Nähe. Nur allergrösstes Pech könnte mich jetzt noch daran hindern, Paris vor Ablauf der von mir angesetzten 3 1/2 Tage zu erreichen.
 +Das monotone „Dadum, dadum“ meines unrunden Hinterrades weckt den Wunsch nach einem Himmelbett. Es ist stockdunkel und meine Beleuchtung nicht mehr so stark, wie sie sein sollte. Schon gegen Mitternacht sind die Batterien so leer, dass ich gezwungen bin, an einem Depot anzuhalten, bis es wieder hell wird. Auch auf diese Situation sind die Organisatoren vorbereitet. Ich werde in einen Stall geschickt, der zum Schlafsaal umfunktioniert ist und in dem Stroh auf dem Boden ausgelegt ist. Hier liegt ein ganzes Wirrwarr von Beinen und verrenkten Körpern kreuz und quer verstrickt; hier stöhnend und keuchend, dort schnarchend und laut furzend. Es gelingt mir nicht, zu schlafen, aber die 5 Stunden im Liegen wirken wahre Wunder.
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 +Die nächsten 200 km verlaufen völlig problemlos. Ein paar französiche Teilnehmer versuchen, sich an mich dranzuhängen, aber die Leitra bietet nicht viel Windschatten. Die Zuschauer längs des Weges reichen zur Erfrischung Flaschen mit kaltem Wasser. Ausgesprochen freundlich sind sie, diese Franzosen. 
 +Vor Paris fahre ich zusammen mit zwei anderen Fahrern, die gelegentlich von Zweifeln geplagt werden, ob wir uns noch auf dem richtigen Weg befinden. Ihre Befürchtungen bestätigen sich, als uns plötzlich ein anderer Teilnehmer entgegenkommt. Es stellt sich heraus, dass wir rund 7 km vorher ein ‚P-B-P’-Schild übersehen hatten, an dem wir hätten abbiegen müssen. So etwas passiert recht schnell, wenn die Aufmerksamkeit nachlässt.
 +Trotz Sturz und Pause komme ich als zweitschnellster Däne ins Ziel, fast 6 Stunden vor Ablauf der zugelassenen Fahrzeit. Von uns 13 erreichen nur 9 das Ziel.
 +Am darauffolgenden Tag breche ich mit der neubereiften Leitra zur Heimreise auf.
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 +Ich bin heute 72 Jahre, und fahre noch immer 10.000 km pro Jahr.
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 +Ohne Auto ist das Leben schön.
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 +Beste Velomobil-Grüsse
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 +Carl Georg
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