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Velomobile - Mobilität der Zukunft?

Der nachfolgende Text ist aus einer Diskussion “Spinner oder Propheten?“ im Velomobilforum www.velomobilforum.de entstanden.

Auslöser war ein Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Radfahrer im Tiefflug, Nr. 35/1998).

Darin heißt es:

„Aber wenn dieses Verkehrsmittel so toll ist, wie seine Nutzer unisono versichern: Warum gibt es dann nicht viel mehr Velomobile? Die Verzweiflung, die diese Frage auslöst, wirkt fast komisch. Die Velomobilenthusiasten wissen, daß sie die Lösung fast aller Verkehrsprobleme kennen - und niemand sich dafür interessiert.“

Die nachfolgende Zusammenfassung fasst ausschließlich die Argumente, die in den 59 Beiträgen genannt wurden, zu einer gegliederten Argumentationshilfe zusammen.

1. Velomobile – Spezialfahrräder mit Vor- und Nachteilen

Das Velomobil als voll verkleidetes Liege(drei)rad ist eine „vergrößerte Spezialversion“ des Grundkonzeptes Fahrrad/Velo. Gut geeignet ist das Fahrrad als Alltags-Nahverkehrsmittel, v. a. auch in Großstädten. Da das Velomobil die Reichweite des Fahrradfahrens vergrößert, ist es weiterhin für längere Überlandfahrten und Reisen geeignet.

Vorteile:

Velomobile bieten für viele logistische Probleme einfache und ökologisch wie ökonomisch günstige Lösungen:

  • Komfort (Wetterschutz, Federung)
  • Transportmöglichkeiten (ggf. erweitert durch Anhänger)
  • verhältnismäßig hohe Geschwindigkeit
  • Umweltfreundlichkeit, dadurch eine Entlastung des Umweltgewissens:
  • Ersparnis von CO2, sonstigen Schadstoffen und Lärm
  • niedrige Unterhaltskosten, geringer Wertverlust
  • Spaßfaktor
  • Frischluftfaktor (wie überhaupt beim Fahrrad)
  • Fitnessfaktor (erübrigt sich bei körperlicher Arbeit)

In Anbetracht des städtischen Stop-and-Go-Verkehrs (auch auf Radwegen) ist eine kleine Motorunterstützung sehr hilfreich (auch im Hinblick auf das Schwitzen).

Nachteile:
  • Die Anschaffungskosten für Velomobile sind hoch, da sie in kleiner Stückzahl überwiegend in Handarbeit gefertigt werden.
  • Subjektives und objektives Gefährdungspotenzial:
  • Ein erheblicher Faktor zur Abschreckung vom Velomobil ist der Umstand, dass die Fahrt darin durch die niedrige Fahrposition „gefährlicher“ wirkt. Wenn der schützende Blechkäfig fehlt, braucht man zumindest Rundum(über)sicht!

Die Gefährdung im Verkehr betrifft aber alle Radler!

  • Velomobile sind in der Regel nur für einzelne Personen eingerichtet; die Einstellung auf andere Benutzer ist sehr aufwändig.
  • Notwendigkeit richtiger Kleidung:
    • Bei der Nutzung für die Fahrt zur Arbeit bedarf es entsprechender Möglichkeiten vor Ort, um sich wieder „salonfähig“ machen zu können.
  • Die Transportmöglichkeiten für Kinder und größere Einkäufe sind beschränkt und bedürfen gesonderter Lösungsansätze.

(Allerdings hätte sich vor 10 Jahren noch niemand träumen lassen, Kinder mit dem Fahrradanhänger zu transportieren, was heute gang und gäbe ist.)

  • Vandalismusgefahr (s. weiter unten)

2. Velomobile – Automobile

Für viele ist das Velomobil eine Alternative oder zumindest eine Ergänzung zum Automobil.

  • Autobesitz wird landläufig mit (erstrebenswertem) Wohlstand gleichgesetzt. Das Automobil ist nach wie vor ein Statussymbol. Das gilt für jede Wohnumgebung, ob Einfamilienhaus mit Garten oder Wohnsiedlung. Nur ist die Wahrscheinlichkeit, sich noch nicht einmal ein Auto leisten zu können, für Bewohner eines Wohnblocks größer als für die im Eigenheim, und der Autobesitz daher wichtiger (vgl. auch den Abschnitt zu Velomobil und Gesellschaft)
  • Im Allgemeinen genießt die Bequemlichkeit höhere Priorität als die körperliche Aktivität.
  • Klimaschutz ist (noch) keine Gewissensfrage.
  • Fahrtzeiten:
  • Das Auto gewinnt, außer im Innenstadtbereich, bei reiner Geschwindigkeitsbetrachtung eigentlich immer. Ab einer Strecke von 20km wird der Vorsprung des Autos gegenüber Fahrrädern aller Art recht deutlich.
  • Da nach landläufiger Meinung gilt, „Zeit ist Geld“, wird das Fahrrad als zweitrangiges Verkehrsmittel wahrgenommen.
  • Der Velomobile sind auf Grund der niedrigen Produktionszahlen Manufakturwaren und daher teurer. Die erheblichen Konstruktionskosten fallen dabei nur marginal ins Gewicht (beim Auto kommen dann noch die Marketingkosten hinzu).logistische Aufwand für den Benutzer ist beim velomobilen Transport höher als beim automobilen.
  • Velomobilnutzung ist auf Grund der Vandalismusgefahr nur mit abschließbarer Unterstellmöglichkeit (Garage) möglich; besonders problematisch erscheint daher das Velomobil in der Großstadt. Zu überlegen ist, inwieweit der Verzicht auf das Automobil v. a. finanzielle Kapazitäten freimacht, die für eine adäquate Unterbringung des Velomobils genutzt werden können (Garagenplatz).

2a. Autoindustrie und Velomobile - eine mögliche Symbiose?

  • Die derzeit existierenden Velomobile werden nicht von hochspezialisierten Arbeitsgruppen mit fast unbegrenztem Zugang zu Technologien aller Art entwickelt, sondern von kleinen Teams praxiserfahrener Enthusiasten.
  • Desiderat wäre ein professionell entwickeltes Velomobil zum Großserienpreis („Volks-Velomobil“ in Serie aus der Autoindustrie).
  • Es besteht vielleicht eine Chance für den Massenmarkteinstieg über Leichtfahrzeuge (Twike, City-EL usw.).
  • Allerdings lobbiiert die Autoindustrie seit ungefähr 100 Jahren äußerst erfolgreich gegen das Fahrrad und wird daher kaum irgendwelche Anstrengungen unternehmen, um einer weiteren Bedrohung ihres Umsatzes zum Durchbruch zu verhelfen.
  • Auch ist Industrie schon konzeptbedingt das Gegenteil von Fortschritt, d.h. die industrielle Fertigung beruht auf der Masse und steht dadurch umwälzenden Neuerungen entgegen, die eigene, nur mit einem gewissen Aufwand in die Fertigung zu integrierende Ansätze erfordern. Die meisten Industrien leben von Kontinuität und scheinbaren Neuerungen, meistens sogar nur in der Form; ein Beleg dafür ist das Konzept des „Läufers“ [https://www.facebook.com/projektlaeufer/]

3. Velomobil und Gesellschaft

Wer fährt Velomobil? Die hohen Anschaffungskosten lassen zunächst folgende Fragen entstehen:

  • Wie viele Velomobil-Eigner sind Harz IV-Empfänger, Niedrigstlohnarbeiter mit staatlichem Zuschuss, wie viele sind Durchschnittsverdiener, wie viele sind keine Hochschulabsolventen, wie viele sind Studenten, wie hoch ist der Prozentsatz von Velomobil-Eignern mit akademischen Graden oder Titeln und wie viele sind Hochschulabsolventen mit gut bis sehr gut bezahlten Jobs?
  • Velomobilie und andere „Hightech-Velos“ werden eher als Spielzeuge Technik verliebter großer Jungs oder auch als Luxus-Freizeitsportgeräte betrachtet, aber nicht als Alltagsgefährte, die in der Lage wären, unter den gegebenen Konkurrenzbedingungen den motorisierten Individualverkehr in der breiten Masse zu ersetzen. Gerade dort, wo Velomobile den größten Vorteil haben könnten, nämlich als Alltags-Nahverkehrsmittel in Großstädten und Ballungszentren, entbrennen auch unter den „spinnerten Propheten“ heiße Diskussionen.

3a. Das Selbstverständnis der Velomobilfahrer

Spinner oder Propheten? Einige Selbsteinschätzungen dazu:

  • „Eine Mischung aus Spinner und Prophet im Sinne von jemandem mit einem Zukunftsideal, was von der heutigen Realität abweicht. Ich glaube, dass alle Propheten ein wenig versponnen waren - ohne Spinnen keine Vision. Es ist aber schwierig, eine Vision der Zukunft mit Argumenten der aktuellen Ideale (Wirtschaftlichkeit) begründen zu wollen. Das ist immer aufgesetzt und geht wohl eher nach hinten los.“
  • Pioniere:
    „Wir können in dem stolzen Bewusstsein fahren, dass wir Pioniere eines zukunftsweisenden Verkehrsmodells waren.“
  • Ganz normale Menschen:
    „Wenn mich Leute mit großen Augen bestaunen, versuche ich immer so zu antworten, als ob es das normalste auf der Welt wäre. Meiner Meinung nach regt das wesentlich mehr zum Nachdenken an, als wenn man ihnen weltverbesserische Vorträge hält.“
  • Liebhaber:
    „Kaufentscheidungen werden, wie alle Entscheidungen, emotional getroffen auch wenn wir es uns nicht gern eingestehen.“

4. Velomobile als Teil alternativer Mobilitätskonzepte

Um den persönlichen Mobilitätsanforderungen gerecht zu werden, haben viele Nutzer von Velomobilen ihre Lösung gefunden:

  • ein gemischtes Verkehrskonzept mit vielen Arten von Fahrrädern und nur wenigen Autos, von bewusstem Umgang mit Umwelt und Ressourcen
  • der Verbund Bahn / HPV als allgemein gültiges Verkehrsmodell, samt allen Vorkehrungen seitens der Bahn.

Diesem Verkehrsmodell wurde leider durch das große Nebenbahnsterben in den 70-er Jahren der Boden weitgehend entzogen, wobei diese Entwicklung sogar noch weiter anhält.

  • Regionalisierung, d.h. die langsame, einlässliche Wiederentdeckung der nahen Umgebung anstelle des Ferntourismus

4a. Kostenrechnungen

  • Das Problem ist, dass bei Beispielsrechnungen nicht ein Velomobil gegen ein Auto aufgerechnet werden kann, da persönliche Mobilitätsanforderungen eine große Rolle spielen. Vielfach müssen bei Überlegungen, das Auto zu ersetzen, in die Berechnungen auch Netzkarten des ÖPV einbezogen werden, die oft schon im alleinigen Vergleich mit einem Auto nur wenig positive Bilanz zeigen.
  • Velos sind, jedes für sich, recht spezielle Verkehrsmittel. Das jeweilige optimale Einsatzgebiet ist relativ eingeschränkt. Auch ein Velomobil ist nicht für alle Velofahrten optimal geeignet. Um den motorisierten Individualverkehr durch Velos ersetzen zu können, werden daher mehrere unterschiedliche Velos benötigt, um einen ähnlichen Komfort zu erreichen. Daraus folgt, dass die Kosten für Anschaffung und Unterhalt sowie der benötigte Stellplatz schnell ansteigen; dies betrifft insbesondere Familien (man vergleiche einmal den Platzbedarf von drei bis vier Velomobilen mit einem Klein- oder Mittelklassewagen für 3 bis 4 Personen - selbst mit Zweitwagen [„Mamataxi“] wird das schon eng).
  • Der Mittelstrecken- und Fernverkehr lässt sich fast gar nicht mit dem Velo bewältigen (zumindest nicht in alltagsgerechten allgemein akzeptierten Zeiträumen, beispielsweise 100km Arbeitsweg = 3-4 Stunden). Velomobil und Bahn sind auf Grund des Platzbedarfs von Velomobil/Fahrgast zu hoch und der logistischen Probleme beim Ein- und Aussteigen auch keine massenverkehrstaugliche Kombination.
  • Kommen zu den Velokosten noch Kosten für die regelmäßige Nutzung des ÖPV hinzu, gewinnt bei vielen der MIV bei der persönlichen Kosten/Nutzen-Rechnung recht deutlich.
  • Bei „normalen“ Rädern passen 3-4 sicher auf den Parkraum eines Autos. Mit 2 Autos können zwei Personen zu zwei Zielen fahren (gemeinsame Ziele sind ja eher selten). Mit 4 Fahrrädern können vier Personen zu vier Zielen fahren. Für Lang- und Mittelstrecken empfiehlt sich ohnehin die Bahn, weil man da während der Fahrt arbeiten oder sich entspannen kann. Wirklich problematisch ist nur die Langstrecke zu Dörfern, weil dort die Anbindung an den ÖPV sehr schlecht ist. Ein Auto ist daher wohl nur für Lasttransporte sinnvoll.

4b. Durchsetzung eines alternativen Mobilitätskonzeptes

  • Das Problem alternativer Verkehrskonzepte besteht darin, dass, solange ein Konzept mit all seinen Vor- und Nachteilen dominiert, sich andere Konzepte mit anderen Vor- und Nachteilen nur schwer durchsetzen können, da das System für das dominierende optimiert ist. Ein dominierendes Konzept durch ein anderes zu ersetzen, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Zukunftsweisend und erfolgreich kann nur eine intelligente Symbiose aller Konzepte sein. Die Umsetzung einer solchen Symbiose kann aber wohl kaum als schleichender Prozess funktionieren - sie müsste aufoktroyiert werden, einer Revolution gleich, was eine detaillierte Planung voraussetzt und äußerst fehlerträchtig ist.
  • Angesichts der großen Bedeutung, die der Bequemlichkeit zugemessen wird, und der Nachrangigkeit des Umweltschutzes im allgemeinen Bewusstsein wird klar, dass der größte Feind unserer Umwelt nicht in der konkreten Luftverschmutzung etc. besteht; sie resultieren letztendlich aus der inneren Faulheit unserer Mitmenschen. Solange nicht erkannt wird, dass Freiheit aus - oftmals als schmerzhaft empfundener - innerer Aktivität resultiert, wird sich nicht viel ändern. Diese Aktivität kann aber nur jeder Einzelne in sich entfalten und muss aus Freiheit erfolgen. Eine zentrale Frage ist daher, wie dieses geschlossene System durchbrochen werden kann.

4c. Hilfe bei der Erstellung persönlicher Mobilitätskonzepte:

Viele haben ihr Konzept in jahrelanger Erfahrung gefunden und immer wieder modifiziert. Wünschenswert wäre eine Möglichkeit, im Internet eine Konfiguration für Mobiltätskonzepte vorzufinden: Nach Eingabe der beabsichtigten km-Leistung jedes Familienmitglieds und der notwendigen Kombinationen (Kinder zum Kindergarten usw.) folgen die Kriterien, die beachtet werden sollen: maximale Kosten pro Monat, Gesundheit, Fahrtzeit, Klimaschutz, jeweilige persönliche verkehrstechnische Infrastruktur uvm. Die Ergebnisse werden besser ausfallen, je mehr Kriterien eingegeben werden. Das könnte zum Nachdenken anregen und helfen, Lösungen zu finden, die durchdacht sind.

5. Die Zukunft des Velomobils

  • Anfangs wird es wohl immer nur ganz langsam vorangehen. Aber wenn in ein paar Jahren eine kritische Masse an Velomobilen erreicht sein wird, dann geht es schnell. Also helfen derzeit nur: Geduld, Freundlichkeit, Offenheit. Auch Autos waren anfangs nur etwas für Spezialisten und Spinner!
  • Um das Velo mit all seinen Facetten als Nahverkehrsmittel zu fördern, bedürfte es wohl eines recht massiven politischen Engagements und gezielter Umgestaltung gesellschaftlicher Werte (öffentliche Meinungsbildung/-beeinflussung).
  • Die „spinnerte“ englische Elite hat vor ca. 90 Jahren das Skifahren in den Alpen eingeführt, heute tummeln sich dort Hans und Franz auf den Brettern… Das lässt doch hoffen, oder?


Diese Zusammenfassung wurde von Pfeife und Luise anhand der Beiträge der folgenden Forumsteilnehmer erstellt: Auflistung der Diskussionsteilnehmer in der Reihenfolge ihrer Beiträge:

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velomobil/allgemein/mobilitaet.txt · Zuletzt geändert: 2019/04/03 21:37 von KaHa