GBSR 2014 – nacherzählt

11. Tag
Tallinn – Kabli
219 km


Von den ersten 10 Tagen der Tour haben wir vier in Städten verbracht; jetzt, am 11. Tag, wurde es mal wieder Zeit für etwas Bewegung. Heute durchqueren wir Estland, von der Hauptstadt weg Richtung Südwest, wieder ans Meer und runter bis etwa 30 km vor die lettische Grenze.


Nina und ich sind früh auf, um 6 Uhr morgens stehen wir abfahrbereit an der Rezeption, zum Frühstück gab es einige Reste von gestern, keinen Kaffee, es muss auch ohne gehen. Zum Aufbruch schließt sich Hansi mit an, den größten Teil des Tages fahren wir zu dritt, nicht immer direkt zusammen, aber nie weit voneinander entfernt.

Tallinn liegt in einer Senke, praktisch auf Meereshöhe. Die einzige echte Steigung des Tages wartet deshalb stadtausgangs Richtung Süden. Der Hügel ist schnell erklommen, nachdem wir zuvor ein letztes Mal den Weg vom Campingplatz zur Stadt am Meer genommen haben, die Stadt selbst über eine Seitenstraße passierten, auf der links und rechts eher hinfällige Mehrfamilienhäuser aus Holz standen. Nun geht es ganz leicht abwärts auf gutem Asphalt und in rascher Fahrt am Flughafen vorbei und an verstreuten Gewerbegebieten links und rechts vorbei, dann biegen wir ab auf eine Nebenstrecke, die uns in sanften Windungen über Land führt, an Bauernhöfen, kleinen Wäldchen, ab und an einem Dörfchen vorbei. Im nächsten Ort endet plötzlich die Straße, weil sie von Grund auf erneuert wird, wir müssen ein Stück über den Bürgersteig, aber dann ist schon alles wieder gut und ein zweispuriger glatter Radweg nach EU-Standard und mit entsprechender Ko-Finanzierung nimmt uns auf. 2-3 km geht das so, dann erreichen wir das Projektende und der Radweg endet unvermittelt – uns egal, wir fahren ohnehin gern Straße, auch wenn diese jetzt schlechter rollt als der Radweg.

So geht es immer weiter, ohne Überraschungen, denn das Land ist übersichtlich, es gibt keine Steigungen auch wenn es nicht polderflach ist. Die Steigungen sind langgezogen und so sanft, dass sie kaum zu sehen, nur in unseren feinnervigen Beinen zu spüren sind. Eine ganze Weile später wird es nach meinem Geschmack doch Zeit für Kaffee, auch wenn hier auf dem estnischen Land nichts auf seine Verfügbarkeit hindeutet. Also weiter.

Zum Glück führt die Route irgendwann auf eine Hauptstraße zurück, der wir ein Stück folgen werden, bevor wir wieder auf kleinere Straßen wechseln. Und genau an der Einmündung auf diese Hauptstraße steht auf der anderen Seite diese Bude. Praktisch ein estnische Raststätte, denke ich mir, und statt links abzubiegen ziehe ich leicht nach rechts rüber, überquere die Straße und biege ein. Eine Zigarettenlänge später kommen auch die anderen an. Ich hatte vorher schon versucht, der Raststättenbesatzung einen Kaffee zu entlocken, vergeblich, die Frühschicht weiss offenbar selbst nicht wie der blinkende Automat in ihrer Bude bedient wird. Kein Wunder, wo doch jeder vernünftige Este zuhause seinen Kaffee trinkt bevor er losfährt.

Als schon Umsatz in Form von drei Kaffees winkt, klappt es dann doch irgendwie mit der Maschine und wir genießen ein zweites Frühstück, diesmal mit Kaffee, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Unterdessen bahnt sich irgendwo hinter uns ein Drama an. In der Weite des Landes muss Jörg sein Evo R so getreten haben, dass der im Hinterrad verbaute Nabendynamo überhitzte und das Rad blockierte. Es wird vom Fahrer „rausgerissen“, trotz großer Hitze des geplagten Teils. Zu reparieren ist da wohl nichts, berichten später auch andere Fahrer die Jörg mit seinem Rad antrafen. Da hilft nur der Besenwagen; Erwin kommt zu seinem zweiten Einsatz, nachdem er vor Tagen in Schweden bei Jürgen und seiner Lebensmittelvergiftung bereits eine Wunderheilung bewirkt hatte – ein Tag im Besenwagen und er war kuriert. Die beiden finden eine Werkstatt, von außen wohl eher schäbig anzusehen, innen aber mit allem ausgestattet, was zur Wartung technischen Geräts vom Auto bis zur Mittelstreckenrakete benötigt wird. Man spricht russisch und ist hilfsbereit, aber der Hitzetod des Nabendynamos erscheint endgültig. Also bleibt den beiden nur die Fahrt zurück nach Tallinn und der Kauf eines Ersatzrads. Vorbei ist es mit der unerschöpflichen Energiequelle, aber immerhin kann Jörg am nächsten Tagen wieder ins Tourgeschehen eingreifen.

Unterdessen geht unsere Fahrt durch das nun immer ländlicher werdende Estland weiter. Die Straßen sind erstaunlich gut dafür, dass wir außer Rapla morgens praktisch keine Stadt passieren. Der Verkehr ist dünn, es rollt gut, dann und wann mal ein klein bisschen hoch, dann wieder ein kleines bisschen runter, kaum zu spüren. Irgendwo halten wir noch mal nach einem Abzweig (Hansi und ich genehmigen uns eine Zigarettenpause) an einem kleinen Laden, lassen uns von den Einheimischen bestaunen und warten, wer wohl als nächster um die Ecke kommt. Es kommen einige – dann können wir ja wieder weiter fahren.

Die Landschaft ist einschläfernd unaufgeregt; wäre da nicht ab und an ein Bahnübergang, könnte man den Tempomat einschalten und ein wenig dösen. Nach rund 110 km ist wieder eine größere Straße erreicht und die Frage stellt sich, ob man der nicht nach Pärnu folgen sollte, dann bräuchte man nicht einmal mehr abzubiegen. Während wir überlegen, kommt das nächste Grüppchen an, bringt eigene Erkenntnissse. Am Ende beschließen wir, länger auf der größeren Straße zu bleiben, denn sie fährt sich gut, dann aber doch den Fluss zu überqueren und über das Dorf Sindi Richtung Pärnu zu fahren. So geschieht es, wir sind nun sechs oder sieben Velomobile recht nah beieinander, alle auf dem Weg zum Mittagessen in Pärnu.

In Pärnu selbst haben wir erst ausgedehntere Vorortstraßen zu durchqueren. Vieles ist hier landestypisch einstöckig und recht bunt gestrichen, dann wieder passieren wir Reihen sowjetischer Rechteckbauten, deren einziger Vorzug wahrscheinlich der Blick auf die Ostsee von den oberen Etagen aus ist. Um die Innenstadt herum finden sich grüne Alleen mit den besseren Häusern der alten Zeit, Villen des späten 19. Jahrhunderts darunter; in der Stadt selbst geht es einfach und niedriger zu. Wir finden eine Stichstraße der Fußgängerzone, in dem ein Lokal neben dem anderen draußen zu Mittag einlädt. Hier bleiben wir, Hansi treibt die inzwischen in verschiedene Straßen verteilte Velomobilmeute zusammen. Lars, unser Tour-Däne, fragt in jeder Stadt die Einheimischen immer nur nach dem besten Restaurant am Platz, das hat allerdings mittags meist geschlossen. In Pärnu wollte man ihn zu irgendeinem Platz am Stadtrand lotsen; er bleibt dann doch lieber bei uns.
Um halb eins haben wir die Getränke vor uns stehen, 160 km hinter uns und ein herzhaftes Mittagessen in Aussicht – noch 60 km nach dem Essen, ein Klacks.

Wir lassen uns Zeit, die Küche des Lokals auch. Als unsere Gruppe nahezu fertig ist, treffen die Niederländer und andere ein, denen wir unseren Tisch überlassen und uns auf den Weg machen. Am Stadtrand decken wir uns im Supermarkt mit Getränken und Lebensmitteln ein und nehmen kurz vor drei die Restrecke unter die Räder, die Hauptverbindungsstraße Richtung Lettland, die einige Kilometer im Landesinnern der Küstenlinie folgt. Die Fahrt ist zügig, Ampeln gibt es nicht, unsere Straße hat immer Vorfahrt. Die Kilometer sausen dahin, und bald ist der Abzweig auf die kleine (und wie sich herausstellen wird eher holprige) Straße nah der Küste erreicht. Hier legen wir die letzten Kilometer zurück; wie immer zieht sich das letzte Stück länger als gedacht, auch weil es hier nicht mehr so gut rollt. Zur Holprigkeit gesellt sich hier ein extrarauer Asphalt, wenn schon, denn schon. Ich hatte mich etwas abgesetzt, als es noch so schön lief, und warte nun auf die anderen, um zu fotografieren.

Bald hat auch diese Straße ein Ende, es ist 16:15 und wir biegen ab zum Hotel Lepannina, zu dem auch unser Campingplatz gehört: eine gepflegte Anlage direkt am Meer, wir erhalten die sehr ebene (keineswegs selbstverständlich) und mit üppiger Grasmatte (ebenso wenig selbstverständlich) bewachsene Zeltwiese. Duschen sind gut; zum Hotel gehört ein Restaurant, in dem am Abend die meisten von uns essen werden.
Nachmittags lockt jedoch zunächst das Meer; das Baden gestaltet sich allerdings eher schwierig, das Wasser ist flach und sehr steinig – Baden ist offenbar nicht wirklich vorgesehen. Der Weg zurück zum Strand lässt sich erheblich besser in Krokodilmanier zurücklegen als zu waten.

Das war Estland. Nicht aufregend, aber schnell und angenehm.
 
...Nach rund 110 km ist wieder eine größere Straße erreicht und die Frage stellt sich, ob man der nicht nach Pärnu folgen sollte, dann bräuchte man nicht einmal mehr abzubiegen. Während wir überlegen, kommt das nächste Grüppchen an, bringt eigene Erkenntnissse. Am Ende beschließen wir, länger auf der größeren Straße zu bleiben...

beim Ansehen Deines Videos habe ich mich noch gewundert, das mir die Vororte von Pärnu so unbekannt vorkommen. Aber wenn Ihr ständig Abkürzungen fahrt, wundert es mich auch nicht mehr, das Ihr immer so früh auf dem Campingplatz ankommt... ;)

Auf den ersten ca.70km war ich mal wieder auf einer etwas längeren Alternativroute unterwegs, da mir diese navigationstechnisch weniger anspruchsvoll erschien: immer geradeaus durch die Stadt und am Ende einmal links abbiegen, danach immer geradeaus bis auf den original-Track. Genau an diesem Punkt traf ich auf @Skipper, mit dem ich den Rest des Tages unterwegs war (mit @Skipper unterwegs zu sein bedeutet übrigens, das man üblicherweise ausgesprochen früh die Leinen los machen muß... :sleep:). Abgesehen von einer kurzen Kaffeepause sind wir zackig bis Pärnu durchgefahren. Am von Dir beschriebenen Abzweig von der Schnellstraße haben wir übrigens nicht gezaudert, sondern haben die Ruhe, Abgeschiedenheit und den liebgewonnenen erhöhten Rollwiderstand auf der Nebenstraße genossen.

In Pärnu angekommen steuerten wir zuerst die Strände im Norden an -> erstmal die Füße in die Ostsee halten. Rein zufällig sind wir am Ladies Beach angekommen, wo uns ein Schild ausdrücklich vor dem möglichen Anblick von Nackten warnt. Unerschrocken überschreiten wir dennoch die Düne, und augenblicklich steigt @Skipper's Puls: der Strand ist nahezu menschenleer, aber in der Bucht von Pärnu findet gerade eine Regatta statt. Eine Weile sehen wir dem Gewusel der Segel am Horizont zu, dann treibt uns der Hunger zurück in die Stadt.

Dort kreuzen wir durch die vollgestopfte Fußgängerzone, sehen aber keine anderen Velomobile und suchen einen passenden Park- bzw. Sammelplatz. Den Standort senden wir dem Captain per SMS, als Antwort erhalten wir wenige Minuten später: "rechts in f-Zone sitzen wir seit ner Stunde" o_O
 
Herrlich, der Film von Tag 11. Da bekomme ich direkt wieder Lust, Urlaub einzureichen und loszufahren.
 
Der Sonnenuntergang bei Hotel Lepaninna war wonderschoen. (das wars' schon).
 
Der Sonnenuntergang bei Hotel Lepaninna war wonderschoen. (das wars' schon).
stimmt, das war mMn der schönste der drei Wochen. Davon habe ich mindestens zwei Dutzend Fotos, ein paar Selfies und auch noch eines, wo Jörg und Pier gemeinsam allein auf den Felsen sitzen und auf Ihre Smartphones starren. Ich sollte wirklich langsam mal mein Fotoalbum aufmöbeln...
 

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Und schön viel Platz auf der Wiese vor dem Tennisplatz!
Gab es da eigentlich wifi?
 
... auf Smartphones starren
so ne dämliche neue Krankheit.
Oder Halt! Ein Riesenschritt in eine bessere Welt. Die Menschheit stört bald die Technik nicht mehr, weil überflüssig.

Aber zurück zum Thema. Es ist eine echte Freude die Tour noch einmal etwas anders nacherleben zu dürfen (y) (auch wenn ich kein klein Fitzelchen selbst dabei war. Naja, 5 min vor dem Essen am Vorabend)
 
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