400er Brevet ARA Mittelhessen
Nach einem echt knackigen neuen 300er, bei dem ich richtig ins Rudern kam, folgte am 29. April die „Erstbesteigung“ des neuen 400ers.
Von den 25 angemeldeten Fahrern trauten sich immerhin 18 auf die Strecke. Exoten zierten keine mehr die Runde, die Frau mit Schrottrad und Joggingschuhen ließ es beim toll gefinishten 200er und der Rucksack-Mountainbiker mit Stollenbereifung beim 300er bewenden. Es überwog gegerbtes Leder Ü50, furchtlose Randonneure, die wußten, was sie taten. Unter ihnen der Organisator Christian, wie gewohnt in ¾ Hosen und ohne Jacke. Wie er die nächtliche Kälte und den Regen überstanden hat, ist mir ein Rätsel. Ich habe trotz Überklamotten gefroren wie ein Schneider. Er muss wohl Isländer im Stammbaum haben.
Nach der gewohnten Ansprache und Gruppenfoto vor der THM setzten sich die Fahrer pünktlich um 21:00 Uhr in Bewegung.
Im ersten flachhügeligen Teil bis zur ersten Kontrolle in Ziegenhain bei km 70 bin ich dem Feld enteilt, dachte ich jedenfalls, denn bei meiner Ankunft stand dort die kompakte Gruppe, Abmarsch bereit. Perplex nahm ich Kommentare wie „wir dachten, wir sehen dich nie wieder“ hin und ließ sie ziehen. Es müssen starke Leute gewesen sein, von ein paar wusste ich es, denn ich sah sie nie wieder. Bis auf ein paar Nachzügler, denen ich wenige Male begegnete, fuhr ich diesen 400er alleine, eine zähe Angelegenheit.
In der Nacht erreichte ich die zweite Kontrolle in Hessisch-Lichtenau bei km 124. Das Melsunger Bergland hatte bereits ein paar Kerben geschlagen, der einsetzende Sprühregen war nicht schlimm, also weiter.
Bis zur dritten Kontrolle in Remsfeld bei km 159 hatte es schon einiges an stetigem Auf und Ab und auch die erste von vier Steigungsspitzen gegeben, aber allmählich wurde es hell. Das hatte ich bereits herbei gesehnt, denn mit wenig Licht teils heftige Anstiege fahren ist für mich eine kipplige Angelegenheit; scheinbar braucht mein Gehirn mehr Informationen.
20 km nach der Kontrolle gab es dann die zweite große Steigung zu erklettern. Man durchquert ein bergiges Gebiet, der westlich an der Strecke gelegene Heulberg trägt einen passenden Namen.
In westlicher Richtung geht es bergauf bergab durch Niederaula, das verkehrsreiche und für Radfahrer niederschmetternde Fulda, auf einer ansonsten durchgängig verkehrsarmen Strecke, hin und wieder ausgesprochen einsam sogar. Der beklommene Randonneur wird hier ganz sich selbst überlassen.
Kurz vor der vierten privaten Kontrollstelle in Heubach bei km 255 erklimmt man noch die dritte Steigungsspitze bei Eichenzell und auch die letzten 3 km ziehen sich, fiese Buckel verwehren einem den Eingang zur Kontrolle. Kurz nach 12:00 Uhr bin ich da, richtig spät und in keinem guten Zustand, mir ist kalt und etwas übel, der Kreislauf schwankt. Gott sei Dank bieten hier die Schulz-Damen Unterhaltung und Verpflegung. Nach ein paar belegten Brötchen und einer Tasse Tee werden mir noch zwei Nussecken eingepackt. Ich verzehre sie unterwegs, sehr mürbe, wunderbar!
Kurz vor meinem Aufbruch kommt noch ein Kollege rein, mit dem ich schon öfters gefahren bin, mein Angebot, mit mir zusammen aufzubrechen lehnt er ab, er will noch bleiben. Ich eise mich los, als ich schon auf der Straße bin, kommt mir noch ein Japaner entgegen, ob es die beiden noch geschafft haben, schwer zu sagen.
Allmählich fange ich an zu rechnen. Die Beine tun mir weh und ich bekomme schlecht Luft. Jetzt wird es zäh. Aber wie so oft kommt mir der Zufall zur Hilfe: Die nächsten 35km bis zur fünften Kontrolle in Burgsinn bei km 290 sind leidlich flach, der Belag meist gut, ich kann Zeit gut fahren und nutze die Gelegenheit. Einfach nicht locker lassen, denke ich mir, man weiß ja nie, ob die Streckenlogik oder ein gut beheiztes Tankenklo einem nicht doch noch in die Hände spielen!
Kurz nach 14:00 Uhr bin ich da, schieße ein Beweisfoto, trage Zeit und Ort in die Kontrollkarte ein, hole mir an einem Automaten frische Rondonneursgutscheine und ringe mich anschließend zu einer halben Stunde Pause in einem gut geheizten Dönerladen durch. Hier Zeit investiert, dort Zeit gespart!
Die Vorstellung, innerhalb der nächsten halben Stunde die letzten 100 anzubeißen, gibt mir Kraft. Obwohl es nicht gut läuft, habe ich das Ziel jetzt wieder klar im Fokus.
Kurz nach der Kontrolle kommt allerdings die vierte Steigungsspitze, der Spessart ist ein Luder, ich nehme sie stumpf unter die Räder. Jetzt bin ich auf Autopilot, nicht schnell, aber stetig. In stramm westlicher Richtung geht es zurück in die Heimat. Wann werde ich bekanntes Gebiet erreichen? Die ersten Ortsnamen?
An Wächtersbach und Wirtheim vorbei, durch Gelnhausen, den Herzberg rechts liegen lassen, durch Lieblos, diese passenden sprechenden Ortsnamen, an Hüttengesäß vorbei, die eine etwas ironische Begleitmusik zu unserem Tun spielen, nach einer gefühlten Ewigkeit die sechste Kontrolle in Limeshain bei km 354, eine kleine Aral, ich mache mich fertig für die Nacht.
Jetzt geht es noch mal durch die Wetterau, grob auf Hungen zu, dann biegt die Strecke noch mal links vom Kurs ab Richtung Butzbach, ich bin zunächst verwirrt. In mir wehrt sich was, nochmal vom Kurs abgebracht zu werden. Und auch hier noch unvermutet bergauf bergab.
Nach einer Viertelstunde kommt Sinn in die Sache, die Strecke führt wieder in die richtige Richtung und mich diesmal von oben nach Lich rein, menschenleer und fintenreich, gut gemacht!
Trotzdem: Die letzten Kilometer ziehen sich noch, die Heimat gibt mir Zuversicht, aber jetzt ist es genug. Dass man sich an einem sicher geglaubten 400er so abarbeiten kann, ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus!
Die Zieltanke in Gießen ist erreicht, steifbeinig komme ich aus dem Rad, gebe meine Karte ab, sie wird auf einem Stapel abgelegt. Der ist überraschend flach. Auf der Webseite lese ich später, dass von 18 Fahrern nur 13 das Ziel erreicht haben. Knapp 28%, jetzt passt das Ganze zu meinem schweren Ritt! Die Tankenjungs beglückwünschen mich, sie sammeln die Karten nun schon zum zweiten Mal ein und nehmen sichtlich Anteil an unserem Tun.
Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass ich noch anderthalb Stunden Luft gehabt hätte. Das sich jetzt nochmal als Fahrzeit obendrauf zu denken, nee, wirklich nicht!
Weil ich vergessen habe einzukaufen, mache ich an Gießens „Dönerdreieck“ inmitten jugendlichen Partyvolks halt, bevor ich das Rad ein letztes Mal für den Heimweg besteige.
Nach einer heißen Dusche mildert ein Kissen zwischen den Beinen die Schmerzen, die mich noch eine Weile beherrschen, bevor ich in Schlaf falle.
Mein Dank geht auch dieses Mal wieder an Christian und seine Damen. Insbesondere die Nussecken, die uns in Heubach erwarten, haben ja schon eine kleine Tradition begründet, die ich auch für das nächste Jahr erhoffe, nein, erwarte!