Entdecke Belgien in 75 Stunden: die Borders of Belgium 2016 (BRM 1000): Teil 3
Nachdem der Naviwecker volle 10 Minuten gebraucht hat mich zu wecken, stehe ich reichlich gerupft auf, ziehe frische Klamotten an, frühstücke, wechsle die Batterien und stelle verblüfft fest, dass ich im Begriff bin weiter zu fahren. Jos ist bereits vor einer Stunde aufgebrochen. Ich denke mit Dankbarkeit an ihn, steige auf und fahre tatsächlich los in einen herrlichen, frischen, wolkenlosen Morgen.
Schon an der ersten Steigung fasse ich einen Entschluss: Wenn die Zeit nicht mehr zu schaffen ist, will ich trotzdem unbedingt zu Ende fahren, nötigenfalls bei Rohnny anrufen und die Verspätung ankündigen. Die Steigungen so langsam wie möglich nehmen. Das ganze Ding ab hier touristisch auffassen. Und die erste 12km lange Steigung, die unvermittelt nach einer Brückenquerung beginnt, demonstriert mir eindrucksvoll eine simple Tatsache, die ich nicht zur Kenntnis genommen hatte; die 8.000 Höhenmeter der gesamten Strecke verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern türmen sich auf etwa 400 Ardennenkilometer auf. Das sind abzüglich An- und Abfahrtgeplänkel rund 1600 Hm pro 100km, und die sollten wir am heutigen Tag zu schmecken bekommen! Der Tag wird bestimmt sein durch ein pausenloses Auf und Ab auf Schlaglochpisten, die den Namen „Straße“ nicht verdienen! Hier schmerzen uns Jahrzehnte schwer vernachlässigte und lieblos geflickte Schwerkranke. Eine Infrastruktur in Auflösung.
Trotz der schweren Aufgabe findet in mir eine zuerst unmerkliche Veränderung statt. Der Entschluss, nicht mehr einer Zeitvorgabe vergeblich hinterher zu jagen, entspannt mich zusehends, und ja, ich kann die Steigungen wieder fahren, wenn auch langsam.
Nach zwei Stunden halte ich mitten in den Ardennen an, das bundscheckige Asphaltband vor mir, die Sonne wärmt den kühlen Morgen, am Wegesrand blühen vielerlei Feldblumen, violett, gelb, rot, Insekten summen. Sonst ist es still. Zum ersten Mal nehme ich die Landschaft mit Genuss wahr!
Plötzlich fällt alle Hektik, alle Bedenken von mir ab, es tut zwar weh, aber ich fühle mich frei, starte, fahre einfach, alles ist leicht.
In dem Moment, in dem ich diese Wendung bemerke, steigt ein unglaubliches Glücksgefühl in mir auf, mir ist zum Jubeln zumute, Gelächter kommt hoch, ein rauschhaftes Vergnügen reißt mich mit. Von allem befreit, bin ich angekommen im Moment. Das ist es! Danach hatte ich gesucht! Das hatte Karl gemeint, als er nach seiner Acht dieses Jahr ins Plaudern gekommen war: „Die letzten 400 sind nur noch schön, es tut zwar immer mehr weh, aber es ist nur noch schön.“
Das wird es wohl sein, was uns bei der Stange hält, es immer wieder zu suchen, das Erlebnis der Selbstbefreiung, Loslösung.
Und, tatsächlich, ab hier wurde es nicht leicht, aber nur noch schön!
Hinter Bastogne beginnen die deutschen Namen: Maldingen, Braunlauf, Crombach, Neundorf, Sankt Vith. An der Strecke entdecke ich einen heimeligen Hof, der ein Cafe, einen Laden mit ländlichen Produkten beherbergt. In der Mitte der zu drei Seiten geschlossenen Anlage Holzbänke und -tische. Eine Gruppe Randonneure hat ihr Lager aufgeschlagen. Zwischen den an Mauerwänden und Bäumen angelehnten Rädern sitzen sie und futtern. Ich bestelle O-Saft, eine salzige Gemüsesuppe und ein Baguette mit köstlichem Camembert. Dann den schattigen Platz verlassen und sich hastig auf das heiße Asphaltband zurück gestürzt, denn erstaunt habe ich festgestellt, dass ich trotz meiner friedlichen Bummelei noch in der Zeit bin.
Ein paar Meter weiter probiere ich mal, mir Wasser bei Privatleuten zu besorgen, die Einkaufsmöglichkeiten sind ausgesprochen rar, und Häuser gibt es genug.
Ein junger Mann um die 30 steht vor seinem Haus, neben ihm sein geparktes Auto. Der Motor läuft. Oft sehe ich Leute neben ihren laufenden Autos stehen. Oder laufende Autos ohne ihre Besitzer, die allgegenwärtigen Kleinbusse, Pkws. Oder die Liebe der Belgier zu Absperrgittern, die überall in phantasievoll-verschwenderischer Weise regeln, wo es selten etwas zu regeln gibt. Vielleicht ein religiöser Kult? Den mahnenden Zeigefinger lasse ich in der Tasche.
Der junge Mann ruft seine Frau. Die bringt mir sofort meine pralle Trinkblase und lässt fragen, ob ich lieber einen Apfel oder einen Pfirsich hätte. Der Mann erzählt, dass er auch Rad fährt und ich erzähle ihm, was ich so mache. Dann verlasse ich kauend den gastlichen Ort.
Der Track zweigt plötzlich links von der Strasse runter in einen matschigen Waldpfad. Der endet vor einem Bachlauf; klares Wasser fließt gluckernd über ockerfarbene Steine. Ich steige ab, genieße die Stille und tauche erst mal meine Radkappe in das kühle Wasser, setzte sie tropfnass wieder auf, eine Wohltat. Hinter Brennnesseln entdecke ich ein Handtuch breites verwittertes Betonbrückchen mit herabhängendem rostigen Metallgeländer. Mit wenig Zutrauen schleiche ich über die bemooste Rampe. Am anderen Ende nimmt mich ein geschotterter Wirtschaftsweg auf, ich quere eine Strasse, scharf links führt der Weg zunächst so steil bergan, dass ich schiebend mit den Radschuhen wegrutsche und nur das Rad ruckweise vorwärts schubsend weiter komme. Eine ellenlange, knackige Steigung führt an Bergwiesen vorbei und verliert sich in einem abermals abgeschotterten Waldweg. Hinter einer Schranke Zeit für eine halbe Stunde Fußmarsch: Das frisch angelegte Schotterbett ist weich und gibt beim Betreten nach. Hier treffe ich einen belgischen Kollegen. Wir schimpfen und schieben gemeinsam. Das ist Randonnieren wie in den 1930er Jahren! Das hat was!
Etliche holprige Aufs und Abs später komme ich durch Manderfeld. Auch hier wieder eine erstaunlich große Gruppe Randonneurskollegen in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit, denke ich, die sich in einem kleinen Supermarkt Trinkbares besorgen. Ich fahre daran vorbei, denn ich weiß ja jetzt, wie man an Wasser kommt!
Hinter Manderfeld zweigt eine schmale Straße rechts ab und führt einen Berg hoch nach Krewinkel. Hier steht ein kleines Ensemble aus Kirchlein, einer recht wuchtigen Kapelle und Pfarrhaus. Auf der gemähten Wiese davor lasse ich mich nieder, während andere Fahrer sich auf den Weg machen. Schließlich begebe ich mich mit meiner Trinkblase zum Pfarrhaus, die Türe steht offen, ich rufe. Die Künstlerin, die dort wohnt und sehr bunte Bilder malt, füllt sie mir auf und wünscht mir weiterhin viel Vergnügen.
Die Kontrolle Monschau kommt in Sicht. Ein propper heraus geputztes Fachwerkstädtchen. Es ist ordentlich Betrieb. Im Restaurant Flossdorff soll nicht nur gestempelt werden, es gibt auch zügig Saft, den obligatorischen Teller Nudeln, ein Rieseneis mit Sahne. Die Kollegen, die hier sitzen, brechen auf, ich lasse es mir schmecken. Ein Kaffee rundet die Sache ab. Ein Kollege von der Insel stempelt nur, kehrt nicht ein, wo will der in ein paar Stunden an Gekochtes kommen?
Die dritte Nacht
Irgendwann wird es dunkel. Auf einem schrundigen Bürgersteig vollziehe ich mein Nachtritual: Armlinge und Beinlinge an, Rettungsweste über, Buff auf. Da kommt Jos von hinten angefahren und tut es mir gleich. Wir gurken eine Weile durch die Nacht, dann kommt ein Gefälle, Gewicht plus Gefälle, ich bin weg.
Als mein Trinksack alle ist, stoppe ich vor einem Haus, Licht brennt, der Fernseher läuft, in der Küche wird hantiert. Es ist halb zehn. Ich betrete den dunklen Hof und klingle. Das Licht geht aus, der Fernseher verstummt. Ich rufe. Nichts. Unverrichteter Dinge ziehe ich ab.
Ein paar Dörfer weiter komme ich an einer Auberge vorbei. Auf dem Platz davor sitzt junges Feiervolk und läßt es sich lautstark gut gehen. Ich steige ab, halblautes Getuschel wegen meiner PBP-Weste. Ich quetsche mich in den Schankraum und bitte um Wasser. Der Wirt fragt mich aus, will wissen, was ich trinken will, füllt meinen Trinksack.
Da kommt Jos die Steigung rauf, ich rufe, er fährt weiter, das junge Frauenvolk am Tisch hebt ein infernalisches und ziemlich anzügliches Pfeifen und Rufen an. Er verschwindet hinter einer Kurve. Der Wirt lädt mich zum Essen ein. Gestärkt verlasse ich den gastlichen Ort.
Kurz vor Opitter gerate ich in ein Wirrwarr von Absperrgittern. Weil die Umfahrung weitläufig zu werden droht und ich hier über eine Brücke muss, schiebe ich eines der belgischen Götzendinger beiseite und werde prompt von einer Gruppe schwer Betrunkener aufgehalten und umringt. Sie sollen den Kurs, der zu einem anderntags stattfindenden Radrennen gehört, bewachen, stieren, schreien, Zigarettenqualm hüllt mich ein. Nach ein paar Grobheiten setze ich meinen Weg fort, finde schließlich die Kontrolle.
Jetzt bin ich schon eine ganze Weile auf endlosen Radwegen unterwegs, die schnurgerade an Kanälen entlang führen. Das ist eintönig aber flach! In mit kommt die Vermutung auf, dass die Berge hinter mir liegen und das bestätigt sich auch.
Ich nehme die Chance wahr, bis zur zweiten Bagdropzone in Lommel wenigstens eine Schlafstunde heraus zu fahren, die ich auch dringend brauche.
Denn in den Ardennen hatte ich mir an einem der Anstiege eine Achillessehnenreizung zugezogen, die seitdem in herrlichem Rot leuchtet und angeschwollen ist.
Außerdem plagen mich seit Stunden so heftige Halluzinationen, die so echt und gegenständlich wirken, dass ich keine Chance habe, sie zu erkennen. Ich sehe Randonneurskollegen vor mir, bilde mir sogar ein, einige zu erkennen, ich sehe klar ihr Auf und Ab beim Pedalieren. Kaum habe ich sie erreicht, lösen sie sich auf und ich fahre durch sie hindurch. Das fühlt sich an, wie durch eine Wand zu gehen. Oft steht auch ein orange farbener übergroßer Müllwagen vor mir auf der Straße, einmal bremse ich sogar, dann löst er sich in einen Scherenschnitt eines von Bäumen umsäumten Nachthimmels auf. Es fällt mir auch immer schwerer, Kurs zu halten. Mit lautem Rufen versuche ich mir meine Klarheit zurück zu erobern.
Vor mir tauchen zwei Rücklichter auf. Und wieder eile ich hoffnungsvoll darauf zu. Etwas Gesellschaft wäre jetzt gut! Sie sind noch sehr weit weg. Manchmal verschwinden sie, dann tauchen sie wieder auf. Kurven, vermute ich. Nach einer halben Stunde werden sie größer. Ich komme immer dichter ran. Diesmal lösen sie sich nicht auf. Es ist Jos, der sich mit einem etwas angeschlagenen Belgier zusammen gespannt hat. Ich erhole mich am Ende der Gruppe und fahre dann voraus. An einer Umleitung verliere ich den Kontakt.
An einem Wehr werde ich aufgehalten. Ich muss den Fluss hier queren, finde aber keine Möglichkeit, Zäune versperren den Weg auf eine Art Containerlager. Schließlich kommt von hinten der belgische Fahrer. Er fährt über eine hinter dem Wehr gelegene gut ausgeleuchtete Brücke, die im Grunde nicht zu übersehen war.
Gegen fünf biege ich in Lommel in eine Ferienanlage ein, in der sich die zweite Bagdropzone befindet. Kerzen und Scheinwerfer weisen den Weg. Ich betrete einen gut gefüllten Raum, bekomme gleich meinen Teller Nudeln, trinke was, werde in Dusche und Schlafplatz eingewiesen, schäle mich aus meinen stinkenden Klamotten, dusche, und werfe mich so für eine Stunde ins Bett.
Sofort bin ich körperlos weg gesackt.
Um Halb sieben schlinge ich Essbares runter, was gerade vor mir liegt, schütte ein paar Tassen Kaffee nach, tape meine Verse und breche sofort in einen kühlen und bedeckten Morgen auf.
Jetzt geht‘s mir wieder gut. Die eine Stunde Schlaf hat Wunder gewirkt. Mit 30 km/h spiele ich die Stärken meines Liegers voll aus. Die letzten 140 km sollten möglich sein. Es geht immer an den Kanälen entlang Richtung Westen durch Turnhout und Antwerpen. Wenn ich bloß in Antwerpen nicht so viel Zeit verliere!
Nach einer Stunde hole ich die ersten Frühstarter ein, immer einen nach dem anderen. Es sind noch erstaunlich viele Randonneure unterwegs. Und schnelle! Ich vermute, dass sie eine ganze Nacht geschlafen haben.
Ein heftiger Landregen setzt ein. Erfrischend nach drei Tagen Gluthitze!
An der Kontrolle Turnhout kippe ich nur einen Kaffee und gehe stempeln. An den Tischen vor dem Kulturcafe sitzen vier Kollegen, zwei weitere Briten rollen vorbei. Nach einer kleinen Ewigkeit taucht Antwerpen links von mir auf, ein barbarisches Kopfsteinpflastergerappel beginnt, die Stadt ist vom Verkehr erstickt, Kleinbaustellen erfordern artistisches Geschick, in einer gerate ich in ein tiefes Schlagloch, es hebt mich aus dem Sattel, mein Vorderrad hat eine heftige Acht. Bremse öffnen, weiter.
Hinter mir ruft es „Monsieur!“ Es ist mein holländischer Kollege, den ich nun schon so oft unterwegs getroffen habe. An einer Ampel sage ich ihm, dass ich es kaum glauben kann, hier zu sein und ohne seinen Beistand in der schlimmen zweiten Nacht sicher das Handtuch geworfen hätte. Er antwortet, dass er den Eindruck auch habe.
Dave, der rasende Brite, mit dem ich die ersten 140 km zu Beginn des Brevets so unvernünftig los geturnt war, taucht auf und Ludwig, ein in London lebender Landsmann, den ich am Vortag des Starts und mit ihm Lindsey, Stephen, Rob und Dean kennen gelernt hatte, eine bunte Truppe, Individualisten, die mich herzlich, auf sehr britische Weise humorvoll ein bisschen adoptiert hatten und die ich unterwegs zu meiner Freude immer wieder traf. Bis auf Dean. Der starke Raucher und Fixifahrer war einfach von Beginn an zu schnell unterwegs gewesen!
Wir durchqueren zu viert den Sint-Anna-Tunnel, einen denkmalgeschützten Fußgängertunnel aus den 1930er Jahren und gelangen so auf die andere Scheldeseite.
Die Buchenstäbchen besetzten Stufen der Rolltreppen und der Handlauf sind nicht synchronisiert. Der Handlauf fährt voraus! Ungeübte gehen so allmählich in die Grätsche und geben, zumal mit Fahrrädern, ein groteskes Bild ab. Wir lernten es von einer jungen Frau mit Hollandrad: Vorderrad quer stellen, Handlauf nicht anfassen, so fährt sie lässig telefonierend an uns vorbei.
Raus aus der Stadt empfängt uns ein heftiger Gegenwind. 30 Kilometer ans Ziel. Ich fühle mich gut und lege einen Zahn zu.
Ich registriere, dass ich es tatsächlich schaffen kann und im Moment steigen Tränen in mir auf, die ich geistesgegenwärtig zurück schlucken kann.
Aber passieren kann mir so wieso nichts mehr. Den heiligen Randonneursgral, den Moment des Einfach-Immer-Weiter-Fahrens, am Ende meiner zweiten Brevetsaison als kräftig leuchtendes Kleinod sicher verwahrt in meinem Herzen, kurz vor dem Ziel.
Nach 15 Kilometern werde ich doch etwas müde und mir ist schwindelig. Auf einer Parkbank verzehre ich den letzten Riegel.
Von hinten kommt eine Gruppe junger Wilder auf, rauscht mit 35+ an mir vorbei, die fahren sich leer! Ich hänge mich dran. Noch schnell jede Kalorie vernichten, die sich irgendwo versteckt hält. Ohne Rücksicht springen sie über Kopfsteinpflaster, legen sich in die Kurve, nehmen sich die Führung ab, kein Gewinke, kein Windschattenfahren. Genau, was ich jetzt brauche. Bei der Einfahrt aufs Gelände springt mir die Kette ab, was soll‘s! Unspektakulär schiebe ich die letzten Meter und erreiche fast unbemerkt den Zielpunkt. Glücklich beendet! Kaum zu glauben! Was für ein Abenteuer! Mit Triumph im Gesicht gebe ich Rohnny meine Kontrollkarte, bekomme meine heiß begehrte 1000er Medaille und halte mich für einen Moment für den wichtigsten Menschen auf der Welt!
In den folgenden zwei Stunden kommen immer wieder Einzelfahrer herein, werden beklatscht und beglückwünscht.
Hier kann ich noch einmal in den Gesichtern lesen, was mich vor kurzem so stark bewegt hat: stolzes Glimmen bricht auf in glückliches Grinsen.