Brevet Brevet-Berichte 2016 [Sammelthread]

Von diesen Achsen mit Inbusspannschraube sind mir sich schon 2 am Gewinde gerissen (zu Hause), eine an der SON Vorderradnabe am Baron.
Mit nem Inbusschlüssel kriegt man da schnell zuviel Zugspannung für das dünne Gewinde drauf.
Seitdem verwende ich da auch lieber die normalen Schnellspanner, mit denen ich besser die ausreichende Spannung abdrücken kann.
 
Hansebrevet: der Bericht.
Anreise nach Berlin mit der Bahn. Bett im Mehrbettzimmer im Hostel=Startort gebucht. Am Abend an der Bar im Hostel mit zwei Randonneuren ein lecker Bier getrunken. Anschließend Schlafen im Schnarchsaal.
Tag 1
Am Morgen, oh Schreck, 120 Schüler in der Lobby. Frühstück in "Ruhe". Fahrrad aufrüsten. @knightrider mit Frau tauchen auf. Später auch @Sturmvogel. Sonst niemand aus der liegenden Fraktion. Wussten die es alle besser...?
10 Uhr endlich der Start. Quer durch Berlin. Für jemanden wie mich, der größere Städte immer umfährt und nie mit der Liege durch Münster fährt, war es zu Beginn schon der Horror. Berlins Autofahrer haben kein Benehmen. Nach 15 km, Abfahrt vom Radweg und wieder Auffahrt über eine fürchterliche Kante und Beng. Der erste Plattfuss nach rund 10 TSD km. Aber ich war nicht allein, es hatte noch jemanden getroffen. Ich war der Meinung, lieber am Anfang, wo die Motivation noch gut ist, als bei Regen in der Nacht nach vielen hunderten von Km. Weit gefehlt. Nach km 25 war Berlin geschafft. Jetzt kam der Wind. Bei Kurs N/O wehte ein sehr böiger Wind aus N/W. Aber es war trocken. Die Stimmung war gut. Soll der Wind doch wehen; dann gehts halt etwas gemütlicher...; bei der ersten Kontrolle, km 121, traf ich auch wieder einige Mitstreiter. Bis doch nicht der letzte (jetzt weiß ich, dass zu diesem Zeit die Laterne bei @Sturmvogel war). Weiter gehts zur Kontrolle Km 166. Irgendwo tauchte dann mal wieder ein häßliches Loch im Asphalt auf. Getroffen und Beng. Diesmal am Hinterrad. Beim Absteigen wurde ich dann von einer Windböe erwischt, die mich einfach in den Graben beförderte. Die Stimmung näherte ich einem Tiefpunkt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, defekte Schläuche in der Helligkeit sofort zu flicken. Die massiven Windgeräusche ließen aber nicht zu, dass Loch zu finden. Einpacken und weiter. Nun kamen erste Zweifel am Zeitplan. Ca. 2 Uhr Strahlbrode Rügenfähre war geplant, um Zeit zum Schlafen zu haben.
Die Natur war ein Traum. Uckermark kann schon endschleunigen. Vor mit dem Wind...
Eine Geheimversorgung überraschte dann in Gummlin. Hier gab es auch erste Gerüchte von einigen Aufgaben. Der Wind sollte Schuld sein. Es wurde Zeit, sich für die Nacht vorzubereiten. Der Wind nahm etwas ab. Usedom war erreicht. Freie Kontrolle in Basin. Ein kurzes Stück zusammen mit einem schweigsamen Niederländer, der sich um den Wind sorgte.
In Wolgast tauchte MC D auf. Kaffee, lecker. Immer mehr Randonneure tauchten plötzlich auf. Beim Verlassen traf ich dann @Sturmvogel und er berichtete von seinem Problem am Milan. Ich hatte ihn zu dieser Zeit schon auf Rügen vermutet. Den Rest der Nacht haben wir dann im Pulk von ca. 12 Fahrern gemeinsam verbracht. Am frühen Morgen, kurz vor Grimmen taucht neben mir die Rennleitung auf. Was macht Ihr hier..., wo soll es denn hin gehen..? Nachdem die Fragen beantwortet hatte, mit dem Hinweis auf 1000km nonstop, ging die Scheibe hoch und sie entfernten sich...
An der Kontrolle in Grimmen waren wieder alle vereint. Es war mittlerweile 4.45Uhr. Noch 30 km bis zur Rügenfähre. Also kein Schlaf mehr.
Im Fährhafen Stahlborde gab es wieder eine geheime Versorgungsstation der Organisatoren. Vielen Dank dafür. Hat gut getan.
6Uhr Fähre nach Rügen.
Tag 2
Rügen war dann wieder allein fahren angesagt. So wie sich plötzlich ein Gruppe gebildet hat, ist sie auch wieder verschwunden. An Schlafen war nicht zu denken. Am Wegesrand habe ich immer mal wieder Kollegen im Schlaf gesehen.
Rügen war verkehrstechnisch die Hölle. Aggressive Auto- und LKWfahrer macht mir das Leben schwer. Insbesondere das Stück über die Schaabe war die Hölle. Der Radweg war völlig indiskutabel (Wurzelschäden...) Auf der Straße wurde im höchsten Maße rücksichtslos gegenüber Radfahrern gefahren. Ich habe irgendwann zu Himmel geschrieben: "Schutzengel, pass auf mich auf". Neben den schlechten Straßen gab es auch immer wieder Kopfsteinpflasterpassagen zu bestehen. Liegend eine Strafe. Kurz vor Kap Arkona musste eine ca. 10 km lange Plattenwegstrecke überwunden werden. Kap Arkona erreicht gegen 10.30 Uhr. Gemeinsam mit zwei Kollegen haben wir uns ein Weizen gegönnt. Und weiter ging es. Ab jetzt immer gegen den Wind zur Wittower Fähre. Es war eine mentale Herausforderung. Die Radwege waren übersät mit Hinterlassenschaften der Bäume. Die Straßen blieben gefährlich. Die B96 nach Stralsund hatte mittlerweile einen guten Radweg. Warum wir aber eine Stadtrundfahrt über übelstes Kopfsteinpflaster in Stralsund absolvieren mussten, ist noch immer ein Rätsel. Am frühen Nachmittag auf einem schönen Radweg durch einen Wald musste ich eine Ruhepause einlegen. Die Hälfte der Strecke war geschafft. Warnemünde erreichte ich noch vor der Dämmerung. Hier waren die Treppenstufen am Bahnhof die Herausforderung (insbesondere für die VM´s). Anschließend hieß es wieder bereit machen für die Nacht. Ach ja, es war ja Fußball. Keine Reaktionen wahrgenommen. Um 23 Uhr ging nichts mehr. Ein Bushäuschen in einem kleinen Dorf sollte meine Bleibe werden. Wecker auf 2 Uhr gestellt und schlafen. 2.15 Uhr lag ich wieder auf meinem Hexenbesen. Es begann leicht zu regnen. Plötzlich Bewegung am Wegesrand. Ein Wildschwein. Oh je. Ich bin stehen geblieben und habe Randale gemacht. Das Wildschwein hat es vorgezogen, zu verschwinden. Es folgte mal wieder eine schlechte Strasse. Beng. Und wieder Plattfuß. Und ich hatte keine intakten Schlauch mehr. Aber alles Fluchen nützt nichts. Stirnlampe auf und an die Arbeit. Und plötzlich tauchen zwei Engel auf. Die beiden Randonneure, mit denen ich am ersten Abend im Hostel an der Bar gesessen habe, helfen mir natürlich mit einem Schlauch weiter. Gemeinsam kämpfen wir uns durch die Nacht. Der Regen läßt schnell nach und es wird eine ruhige Fahrt nach Travemünde. In Lübeck suchen wir einen Fahrradladen auf und ich versorge mich mit ausreichend Schläuchen. Anschließend gegen wir gemeinsam in Lübeck Frühstücken. Um 10.30 gibt es Spagetti und Weizenbier.
Tag 3
Ab Lübeck haben wir Rückenwind. Super. Wir fahren gemeinsam. Langsam, aber es läuft gut. Ich fahre hinter den RR. Ich sehe die Verrenkungen der beiden und bin glücklich auf meinem Hexenbesen zu liegen. Ich habe keine Beschwerden. Ach ja, im bekomme auf einer schlechten Passage natürlich wieder einen Plattfuß (No.5). Ansonsten verläuft der Tag bis Schwerin recht unspektakulär. Immer mal wieder ein Schauer erwischt uns.
Wir erreichen am späten Nachmittag die Kontrolle in Rampe. Viele Randonneure versammeln sich. Es zieht ein heftiges Regengebiet auf. Das Satellitenbild zeigt eine dunkelblaue Färbung. Alle verfügbaren Regenkleidungsstücke werden ausgepackt und angezogen. Und schon geht es ab. Es schüttet aus allen Eimern. Aber vor Anbruch der Dunkelheit ist der Spuk vorbei. Die Straßen östlich von Schwerin sind sehr gut. es rollt so gut, dass ich immer mal wieder richtig Gas geben kann. Hilft auch im Kampf gegen die Müdigkeit. Um 0.30 Uhr erreichen wir mit Km 884 die Kontrolle in Röbel an der Müritz. Der junge Mann an der Tankstelle weis auf unsere Frage nach der Waschhalle keine Antwort. Aber er die Frage nach einer Bank beantworten. Also EC Hotel für die Nacht. Ich glaube, es waren wohl ca. 10 Radfahrer, die sich in dem Bankschalter versammelt haben. Um 3 Uhr ist die Ruhepause zu Ende. Noch rund 150 km bis Berlin. 7.30 Uhr erreichen wir Neuruppig. Die letzte Kontrolle vor Berlin. Die letzten 70 km gehen wir ganz entspannt an. Die Entspannung weicht schnell mit der Einfahrt nach Berlin. 10.45 Uhr ist es endlich vollbracht. Das Hostel ist erreicht. Das Brevet ist absolviert. Wiedermal ist eine Prüfung erfolgreich bestanden. Aber diese hat es in sich gehabt.
Der Tag sollte aber für mich noch einige Überraschungen bereit halten. Aber auch die konnte trotz Erschöpfung überstehen. Trotzdem, von Berlin nach Münster nur mit RE Zügen (5x Umsteigen) war auch eine Erfahrung. Die letzten 7 km bis nach Hause habe ich wieder liegend absolviert ohne Plattfuß. Punkt 0 Uhr an Tag 4 war mein Erlebnis Hansebrevet zu Ende.
Trotz aller Kritik an der Routenführung danke ich den Organisatoren. Ihr habt mir ein Erlebnis geschenkt, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Die mentale Herausforderung war für mich größer als bei PBP.

Die Prüfung am Material brachte folgendes Ergebnis: 5 Plattfüße, eine gebrochene Speiche und ein an der Flanke beschädigter Reifen.
Die Prüfung am Fahrer: körperlich gut verkraftet, mental gab es echte Krisen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Trotz aller Kritik an der Routenführung danke ich den Organisatoren. Ihr habt mir ein Erlebnis geschenkt, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Die mentale Herausforderung war für mich größer als bei PBP.
Moin Norbert,

schöner Bericht. Ich stimme deiner Beurteilung 100% zu.
Eine echte Prüfung - Nachahmungstäter seien gewarnt.
Mit dem VM sicher eine grenzwertige Tour.
Viel Kopfsteinpflaster, einige Plattenwege, viele Stadtdurchfahrten eine Großbaustelle und sogar eine Treppe.

Happy miles
Thomas
 
Rügen war verkehrstechnisch die Hölle. Aggressive Auto- und LKWfahrer macht mir das Leben schwer. Insbesondere das Stück über die Schaabe war die Hölle. Der Radweg war völlig indiskutabel (Wurzelschäden...) Auf der Straße wurde im höchsten Maße rücksichtslos gegenüber Radfahrern gefahren. Ich habe irgendwann zu Himmel geschrieben: "Schutzengel, pass auf mich auf". Neben den schlechten Straßen gab es auch immer wieder Kopfsteinpflasterpassagen zu bestehen. Liegend eine Strafe. Kurz vor Kap Arkona musste eine ca. 10 km lange Plattenwegstrecke überwunden werden.

Auf Rügen war ich kürzlich. Sehr schöne Insel, aber was die Radwege und den Verkehr betrifft, muss ich dir (leider) absolut Recht geben. (n)
Wir sind ebenso über den Plattenweg durch Vitt nach Kap Arkona. Ist schon mit dem Cyclocrosser eine Zumutung. Zurück bin ich die ruhige Landstraße über Altenkirchen und ein Stück am Radweg entlang der L30. Lässt sich viel besser fahren. Falls du noch mal in die Verlegenheit kommst... ;)
Ab Juliusruh bin ich aber auf die Fahrbahn. Bis kurz vor Glowe war's relativ ruhig, aber dann wieder sehr aggressive Autofahrer. Zum Glück kannte ich eine Abkürzung über den Spycker See...

Ist echt schade, dass die Radwege auf Rügen so miserabel sind. Die wurden nur von den Radwegen in Stralsund getoppt. Und da sind die Autofahrer nicht besser. Wobei die Stralsunder generell von mir keinen Preis für Freundlichkeit gegenüber Touristen bekommen. (n) Oder sie hatten alle nur eine schlechte Woche - wer weiß.

Das es auch anders geht, zeigte sich bei der Mecklenburger Seenplatte. Da kann man die Radwege zwar auch vergessen, aber wenigstens die Leute waren alle nett und die Autofahrer sehr rücksichtsvoll. (y)

Ich muss sagen, seit Rügen/Stralsund bedanke ich mich jeden Tag für unsere Radwege! :rolleyes:
 
Entdecke Belgien in 75 Stunden: die Borders of Belgium 2016 (BRM 1000): Teil 1

Die Borders of Belgium 2016 scheinen so etwas wie ein Geheimtipp zu sein; kaum jemand weiß etwas darüber. Ich bin zufällig darauf gestoßen, denn die Informationen sind spärlich gesät, eine schmale Webseite, ein Facebookprofil, das war's.

Ein kleiner 1000er sollte es sein, so etwa wie bei Heidi und Karl, klein genug, um sich untereinander und die Veranstalter kennen zu lernen. Kein großes Tam-Tam, trotzdem ein bisschen international, südlich, anders als zu Hause, nicht zu schwer. Da passt Belgien mit einer Prise Frankreich und Deutschland, vermeindlich vom Profil so ähnlich wie Holland, mit ein paar 100 Kilometern Ardennenhügeln, doch super ins Profil.

Die Borders of Belgium werden von den Brüdern François und Rohnny Van Marsenille zum dritten Mal in Folge nach 2012 und 2014 ausgerichtet. Das nach BRM-Regeln ausgetragene Randonnée führt über insgesamt 1000 km entgegen dem Uhrzeigersinn an den Außengrenzen Belgiens entlang und touchiert dabei Frankreich und Deutschland. Start-Ziel-Punkt ist der Sportkomplex Puyenbroeck etwa 20 km von Gent in Ostflandern. Von dort geht es Richtung Westen großräumig um Brügge herum durch Westflandern an die Nordseeküste, folgt dieser in südwestlicher Richtung bis kurz vor Dünkirchen, mäandert in südöstlicher Richtung durch die Wallonie zur ersten Bagdropzone nach Habay-la-Vieille, wendet sich über die Ardennen in nördlicher Richtung über Bastogne, Monschau und Maastricht zur zweiten Bagdropzone in Lommel. Von dort startet der „Rückweg“ nach Westen über Turnhout und Antwerpen.

Die Anreise

Einen Tag vor dem Start am ersten September bin ich über Aachen, Welkenraedt, einer Art Regionalbahn, die zu den innerbelgischen Fernzügen führt, und Gent angereist und habe eine ruhige

Nacht direkt am Veranstaltungsort verbracht. Die Fahrradmitnahme ist in Belgien nicht vereinheitlicht, in jedem der sieben Zugtypen wird es anders gehandhabt. Allen gemeinsam ist ein Gepäckabteil, das während der Fahrt abgeschlossen wird und für die Fahrgäste nicht zugänglich ist; ähnlich wie in der Schweiz, nur sehr viel kleiner. Auf der Hinfahrt war mir entsprechend mulmig und prompt fiel mein Rad um; auf der Rückfahrt war ich schon etwas mutiger und mit den Verhältnissen besser vertraut; nach kurzer Diskussion durfte ich es mit ins Abteil nehmen.

Von Gent bin ich die letzten gut 20 Kilometer mit dem Rad gefahren, eine Erfahrung, die ich auf der Rückfahrt ganz sicher zum letzten Mal wiederholt habe.

Gent ist eine von Kleinbaustellen zerstückelte, vom Verkehrsinfarkt vollständig erstickte Stadt, die Radwege hochgefährliche, oft Handtuch breite, von Schlaglöchern übersäte Alibipfade, die Hafenanlagen, die man kilometerweit durchqueren muss eine in Schmutz, Staub und Schwerlastverkehr erdrückte Mondlandschaft; ich weiss nicht, was ich alles einatmen musste; auf der Rückfahrt war ich von tiefem Mitgefühl für diejenigen erfüllt, die in dieser Stadt leben müssen.
Für diejenigen, die in zwei Jahren erneut antreten wollen und mit dem Zug anreisen: Fahrt bis Gent und steigt um nach Lokeren. Von dort sind es lauschige 12 Kilometer nach Puyenbroeck!

Der Start

Den eigentlichen Start habe ich nicht recht mitbekommen, ich bin in der zweiten Gruppe und alle kommen recht unspektakulär ins Rollen.
Die ersten rund 70 km bis zur Küste verlaufen über Betonplattenwege, Kopfsteinpflaster, Schlaglochpisten. Ich werde heftig durch gerüttelt, das Tempo ist mit um die 30 km/h gering, obwohl es flach ist, und leise Zweifel gepaart mit unerfüllter Hoffnung auf fahrbarere Straßen trüben meine Zuversicht.

Ab Knokke wird es besser, abschnittsweise kann man auf den breiten Strandboulevards fahren, allerdings ist hier zum Feierabend viel Begängnis, Scharen von Urlaubern bevölkern die zahlreichen Cafes, Strandbars, Restaurants und sind nicht immer auf Rennfahrer gefasst. Ich umfahre eine Radrennveranstaltung; Absperrgittern für einen etwa 1,5 km langen Rundkurs verhindern die Durchfahrt. Schiebend tauche ich durch Menschenmengen und Lautsprechergetöse.

Ein breiter Streifen Sandstrand mit Strandkörben und allem Urlaubs-Drum-und-Dran tut sich rechts von mir auf, die See liegt beinahe ruhig als metallgraue Scheibe dahinter.
Ein klimatisierter Aldi taucht auf, in dem ich dankbar verschwinde und mich mit dem nötigsten zur Nacht versorge, denn es ist bullenheiß, kein Wölkchen trübt den Himmel, man muss tapfer dagegen antrinken, um nicht buchstäblich zu verdorren.
Nach gut 140 km kommt die erste Kontrollstelle in Sicht. Am Ende einer prächtigen Promenade taucht das gewaltige Standbild Leopolds des Ersten auf; hier betrat der erste belgische König am 17. Juli 1831 den unabhängig gewordenen Staat Belgien. Rechts davon drängen sich unzählige Randonneurskollegen um die Tische, Ich lasse meine Kontrollkarte abstempeln, werde barsch abgefertigt und beschließe, diesen ungastlichen Ort umgehend zu verlassen. Mit Dave, einem Bilderbuchrandonneur von der Insel, der einem Radprospekt aus den 1930er Jahren entsprungen zu sein scheint, Bart, braun gebrannt, Radkappe, Retrotrikot, mache ich mich fertig zur Nacht; Armlinge, Beinlinge, Warnweste, Buff und auf in die beginnende Dunkelheit.

Die nächste Kontrollstelle in Houyet ist rund 300 km weit entfernt, wir werden sie am nächsten Spätnachmittag erreichen; vorbei an Ieper, Menem, Beloil, Lac de l‘Eau d‘Heure und Mariembourg.
Während der Rest im Einerlei aus aneinander gereihten Dörfern verschwimmt, habe ich an Lac de l‘Eau d‘Heure eine klare Erinnerung. Nach insgesamt 380 km erreicht man ein gewaltiges, von kühlenden Wäldern umstandenes Seengebiet und durchquert es auf hügeligen, gut asphaltierten, kurvigen Radwegen. Über eine breite Staumauer zwischen zwei Seenplatten spuckt es einen wieder über eine flotte Steigung in die wolkenlose Hitze.
 
Entdecke Belgien in 75 Stunden: die Borders of Belgium 2016 (BRM 1000): Teil 2

Die erste Nacht

Mitten in der Nacht verliere ich eine kleine Gruppe, der ich vorausfahre, irgendetwas stimmt mit dem Track nicht, dass sich die Farbe von Magenta auf Rosé verändert hat, fällt mir nicht auf. Erst, als es falsch sein muss, halte ich an und begebe mich auf die Fehlersuche, finde aber zunächst nichts, probiere erfolglos ein paar Alternativen, von den Kollegen weit und breit nichts zu sehen, es kommt auch keiner nach, Stille herrscht, rings um liegen sie in ihren Betten und schlafen. Ich stehe im Nirgendwo und halte nervöse Befürchtungen nieder. Irgendwann bemerke ich, dass ein bestimmter Schnellstraßentyp auf meiner OSM-Karte roséfarben ist. Diesem bin ich also an einer Überkreuzung hinterher gefahren, bis der Track außer Sicht war. Karte ein paar mal aufgezoomt, bis ich ihn wieder hatte, und dann, die grobe Richtung peilend, darauf zu, Erleichterung und Beklommenheit halten sich die Waage.

Bei Tageslicht des zweiten Tages erreiche ich Houyet, wo bereits einige Kollegen die umliegenden Lokale bevölkern, um sich vor der zweiten Nacht noch einen Teller Nudeln zu gönnen. Hier treffe ich auf Jos, der in den Niederlanden selbst Brevets organisiert und BoB bereits 2014 gefahren ist. Er rät mir zu einem Italiener, so essen und verplaudern wir die Pause, bis es zum zweiten Mal ans Fertigmachen für die Nacht geht, Armlinge und Beinlinge an, Buff auf, usw. Noch ahne ich nicht, wie wichtig dieser um sechs Jahre an Erfahrung reichere und sehr besonnen wirkende Randonneur für mich werden wird.

Die zweite Nacht

Erstaunt stelle ich fest, dass es bereits sehr hügelig geworden ist. Aber nachdem Jos ein paar Lichtprobleme beseitigt hat, geht’s auf in die Nacht. Schnell stelle ich fest, dass ich sowohl durch die unvernünftige Raserei auf dem Flachstück an Anfang der Strecke, als auch durch die üble Beschaffenheit der Straßen, das ständige Gerüttel und Gebremse, schwer angezählt bin. Im Laufe der Nacht nimmt die Erschöpfung zu, ich kämpfe mich schwer arbeitend hinter dem Rücklicht meines Vordermanns her. Bald fange ich an, die zweistelligen Dinger zu schieben. Erst kann ich noch kontrolliert gehen, dann fange ich an zu schlingern. Immer öfter steige ich ab, ergebe mich hilflosem Fluchen. Wie soll es erst nach der ersten Bagdropzone werden. Dann beginnen die fiesen, langen Anstiege erst! Berge dunkler Gedanken türmen sich vor mir auf, gehen mit meinen matschigen Beinen eine unheilige Allianz ein. Müde und ausgelaugt lasse ich mich gehen, dass es eine Schande ist! Mein Verfall schreitet rapide voran und wirft die letzte Hoffnung um, hier noch mit heiler Haut raus zu kommen.

Aber mein nächtlicher Begleiter bleibt!

Er fährt immer so weit voraus, dass ich mit äußerster Anstrengung gerade dran bleiben kann. Das kann kein Zufall sein! Nach ein paar Stunden stimmt er einer Pause zu, wir sitzen auf Paletten mit Tierfutter, ich versuche säuerliches Wasser aus einer Leitung auf dem Gelände zu trinken, bringe es aber nicht runter. Jetzt muss ich Farbe bekennen! Ohnehin nagt an mir das schlechte Gewissen, dass ich ihm seinen Schnitt versaue. Ich sage ihm, dass keine Chance mehr sehe, das hier positiv zu beenden, dass das hier einfach eine Nummer zu groß für mich ist.

Er glaubt, dass wir gegen 2:00 Uhr (Samstag) die erste Bagdropzone in Habay-La-Vieille (km 563) erreichen können, und wir brechen auf. Ich verbeiße mich in sein Rücklicht. Das scheint mir die letzte Hoffnung zu sein, wenigstens Habay zu erreichen. Ich weiß, wenn ich dieses Rücklicht verliere, ist es aus!

Um zwei in der Nacht erreichen wir Habay, Rohnnys Frau stellt uns gleich einen Teller Nudeln hin, sie ertragen unseren Gestank, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Ich sage, dass ich auf mich keinen Pfifferling mehr gebe. Jos sagt, geh mal duschen, leg dich hin und dann mal sehen. Ich bekomme mein Zimmer, schäle mich aus den stinkenden Klamotten, gehe duschen, ach duschen, dann Franzbranntwein auf die Beine, das Bett richtig zu beziehen gelingt mir nicht, meine Arme zittern, ich lasse mich für drei Stunden in die zerknautschten Laken fallen und sacke sofort weg wie ein Stein.
 
Entdecke Belgien in 75 Stunden: die Borders of Belgium 2016 (BRM 1000): Teil 3

Nachdem der Naviwecker volle 10 Minuten gebraucht hat mich zu wecken, stehe ich reichlich gerupft auf, ziehe frische Klamotten an, frühstücke, wechsle die Batterien und stelle verblüfft fest, dass ich im Begriff bin weiter zu fahren. Jos ist bereits vor einer Stunde aufgebrochen. Ich denke mit Dankbarkeit an ihn, steige auf und fahre tatsächlich los in einen herrlichen, frischen, wolkenlosen Morgen.

Schon an der ersten Steigung fasse ich einen Entschluss: Wenn die Zeit nicht mehr zu schaffen ist, will ich trotzdem unbedingt zu Ende fahren, nötigenfalls bei Rohnny anrufen und die Verspätung ankündigen. Die Steigungen so langsam wie möglich nehmen. Das ganze Ding ab hier touristisch auffassen. Und die erste 12km lange Steigung, die unvermittelt nach einer Brückenquerung beginnt, demonstriert mir eindrucksvoll eine simple Tatsache, die ich nicht zur Kenntnis genommen hatte; die 8.000 Höhenmeter der gesamten Strecke verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern türmen sich auf etwa 400 Ardennenkilometer auf. Das sind abzüglich An- und Abfahrtgeplänkel rund 1600 Hm pro 100km, und die sollten wir am heutigen Tag zu schmecken bekommen! Der Tag wird bestimmt sein durch ein pausenloses Auf und Ab auf Schlaglochpisten, die den Namen „Straße“ nicht verdienen! Hier schmerzen uns Jahrzehnte schwer vernachlässigte und lieblos geflickte Schwerkranke. Eine Infrastruktur in Auflösung.

Trotz der schweren Aufgabe findet in mir eine zuerst unmerkliche Veränderung statt. Der Entschluss, nicht mehr einer Zeitvorgabe vergeblich hinterher zu jagen, entspannt mich zusehends, und ja, ich kann die Steigungen wieder fahren, wenn auch langsam.
Nach zwei Stunden halte ich mitten in den Ardennen an, das bundscheckige Asphaltband vor mir, die Sonne wärmt den kühlen Morgen, am Wegesrand blühen vielerlei Feldblumen, violett, gelb, rot, Insekten summen. Sonst ist es still. Zum ersten Mal nehme ich die Landschaft mit Genuss wahr!
Plötzlich fällt alle Hektik, alle Bedenken von mir ab, es tut zwar weh, aber ich fühle mich frei, starte, fahre einfach, alles ist leicht.
In dem Moment, in dem ich diese Wendung bemerke, steigt ein unglaubliches Glücksgefühl in mir auf, mir ist zum Jubeln zumute, Gelächter kommt hoch, ein rauschhaftes Vergnügen reißt mich mit. Von allem befreit, bin ich angekommen im Moment. Das ist es! Danach hatte ich gesucht! Das hatte Karl gemeint, als er nach seiner Acht dieses Jahr ins Plaudern gekommen war: „Die letzten 400 sind nur noch schön, es tut zwar immer mehr weh, aber es ist nur noch schön.“
Das wird es wohl sein, was uns bei der Stange hält, es immer wieder zu suchen, das Erlebnis der Selbstbefreiung, Loslösung.

Und, tatsächlich, ab hier wurde es nicht leicht, aber nur noch schön!

Hinter Bastogne beginnen die deutschen Namen: Maldingen, Braunlauf, Crombach, Neundorf, Sankt Vith. An der Strecke entdecke ich einen heimeligen Hof, der ein Cafe, einen Laden mit ländlichen Produkten beherbergt. In der Mitte der zu drei Seiten geschlossenen Anlage Holzbänke und -tische. Eine Gruppe Randonneure hat ihr Lager aufgeschlagen. Zwischen den an Mauerwänden und Bäumen angelehnten Rädern sitzen sie und futtern. Ich bestelle O-Saft, eine salzige Gemüsesuppe und ein Baguette mit köstlichem Camembert. Dann den schattigen Platz verlassen und sich hastig auf das heiße Asphaltband zurück gestürzt, denn erstaunt habe ich festgestellt, dass ich trotz meiner friedlichen Bummelei noch in der Zeit bin.

Ein paar Meter weiter probiere ich mal, mir Wasser bei Privatleuten zu besorgen, die Einkaufsmöglichkeiten sind ausgesprochen rar, und Häuser gibt es genug.
Ein junger Mann um die 30 steht vor seinem Haus, neben ihm sein geparktes Auto. Der Motor läuft. Oft sehe ich Leute neben ihren laufenden Autos stehen. Oder laufende Autos ohne ihre Besitzer, die allgegenwärtigen Kleinbusse, Pkws. Oder die Liebe der Belgier zu Absperrgittern, die überall in phantasievoll-verschwenderischer Weise regeln, wo es selten etwas zu regeln gibt. Vielleicht ein religiöser Kult? Den mahnenden Zeigefinger lasse ich in der Tasche.
Der junge Mann ruft seine Frau. Die bringt mir sofort meine pralle Trinkblase und lässt fragen, ob ich lieber einen Apfel oder einen Pfirsich hätte. Der Mann erzählt, dass er auch Rad fährt und ich erzähle ihm, was ich so mache. Dann verlasse ich kauend den gastlichen Ort.

Der Track zweigt plötzlich links von der Strasse runter in einen matschigen Waldpfad. Der endet vor einem Bachlauf; klares Wasser fließt gluckernd über ockerfarbene Steine. Ich steige ab, genieße die Stille und tauche erst mal meine Radkappe in das kühle Wasser, setzte sie tropfnass wieder auf, eine Wohltat. Hinter Brennnesseln entdecke ich ein Handtuch breites verwittertes Betonbrückchen mit herabhängendem rostigen Metallgeländer. Mit wenig Zutrauen schleiche ich über die bemooste Rampe. Am anderen Ende nimmt mich ein geschotterter Wirtschaftsweg auf, ich quere eine Strasse, scharf links führt der Weg zunächst so steil bergan, dass ich schiebend mit den Radschuhen wegrutsche und nur das Rad ruckweise vorwärts schubsend weiter komme. Eine ellenlange, knackige Steigung führt an Bergwiesen vorbei und verliert sich in einem abermals abgeschotterten Waldweg. Hinter einer Schranke Zeit für eine halbe Stunde Fußmarsch: Das frisch angelegte Schotterbett ist weich und gibt beim Betreten nach. Hier treffe ich einen belgischen Kollegen. Wir schimpfen und schieben gemeinsam. Das ist Randonnieren wie in den 1930er Jahren! Das hat was!

Etliche holprige Aufs und Abs später komme ich durch Manderfeld. Auch hier wieder eine erstaunlich große Gruppe Randonneurskollegen in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit, denke ich, die sich in einem kleinen Supermarkt Trinkbares besorgen. Ich fahre daran vorbei, denn ich weiß ja jetzt, wie man an Wasser kommt!
Hinter Manderfeld zweigt eine schmale Straße rechts ab und führt einen Berg hoch nach Krewinkel. Hier steht ein kleines Ensemble aus Kirchlein, einer recht wuchtigen Kapelle und Pfarrhaus. Auf der gemähten Wiese davor lasse ich mich nieder, während andere Fahrer sich auf den Weg machen. Schließlich begebe ich mich mit meiner Trinkblase zum Pfarrhaus, die Türe steht offen, ich rufe. Die Künstlerin, die dort wohnt und sehr bunte Bilder malt, füllt sie mir auf und wünscht mir weiterhin viel Vergnügen.

Die Kontrolle Monschau kommt in Sicht. Ein propper heraus geputztes Fachwerkstädtchen. Es ist ordentlich Betrieb. Im Restaurant Flossdorff soll nicht nur gestempelt werden, es gibt auch zügig Saft, den obligatorischen Teller Nudeln, ein Rieseneis mit Sahne. Die Kollegen, die hier sitzen, brechen auf, ich lasse es mir schmecken. Ein Kaffee rundet die Sache ab. Ein Kollege von der Insel stempelt nur, kehrt nicht ein, wo will der in ein paar Stunden an Gekochtes kommen?

Die dritte Nacht

Irgendwann wird es dunkel. Auf einem schrundigen Bürgersteig vollziehe ich mein Nachtritual: Armlinge und Beinlinge an, Rettungsweste über, Buff auf. Da kommt Jos von hinten angefahren und tut es mir gleich. Wir gurken eine Weile durch die Nacht, dann kommt ein Gefälle, Gewicht plus Gefälle, ich bin weg.

Als mein Trinksack alle ist, stoppe ich vor einem Haus, Licht brennt, der Fernseher läuft, in der Küche wird hantiert. Es ist halb zehn. Ich betrete den dunklen Hof und klingle. Das Licht geht aus, der Fernseher verstummt. Ich rufe. Nichts. Unverrichteter Dinge ziehe ich ab.
Ein paar Dörfer weiter komme ich an einer Auberge vorbei. Auf dem Platz davor sitzt junges Feiervolk und läßt es sich lautstark gut gehen. Ich steige ab, halblautes Getuschel wegen meiner PBP-Weste. Ich quetsche mich in den Schankraum und bitte um Wasser. Der Wirt fragt mich aus, will wissen, was ich trinken will, füllt meinen Trinksack.
Da kommt Jos die Steigung rauf, ich rufe, er fährt weiter, das junge Frauenvolk am Tisch hebt ein infernalisches und ziemlich anzügliches Pfeifen und Rufen an. Er verschwindet hinter einer Kurve. Der Wirt lädt mich zum Essen ein. Gestärkt verlasse ich den gastlichen Ort.

Kurz vor Opitter gerate ich in ein Wirrwarr von Absperrgittern. Weil die Umfahrung weitläufig zu werden droht und ich hier über eine Brücke muss, schiebe ich eines der belgischen Götzendinger beiseite und werde prompt von einer Gruppe schwer Betrunkener aufgehalten und umringt. Sie sollen den Kurs, der zu einem anderntags stattfindenden Radrennen gehört, bewachen, stieren, schreien, Zigarettenqualm hüllt mich ein. Nach ein paar Grobheiten setze ich meinen Weg fort, finde schließlich die Kontrolle.

Jetzt bin ich schon eine ganze Weile auf endlosen Radwegen unterwegs, die schnurgerade an Kanälen entlang führen. Das ist eintönig aber flach! In mit kommt die Vermutung auf, dass die Berge hinter mir liegen und das bestätigt sich auch.
Ich nehme die Chance wahr, bis zur zweiten Bagdropzone in Lommel wenigstens eine Schlafstunde heraus zu fahren, die ich auch dringend brauche.

Denn in den Ardennen hatte ich mir an einem der Anstiege eine Achillessehnenreizung zugezogen, die seitdem in herrlichem Rot leuchtet und angeschwollen ist.
Außerdem plagen mich seit Stunden so heftige Halluzinationen, die so echt und gegenständlich wirken, dass ich keine Chance habe, sie zu erkennen. Ich sehe Randonneurskollegen vor mir, bilde mir sogar ein, einige zu erkennen, ich sehe klar ihr Auf und Ab beim Pedalieren. Kaum habe ich sie erreicht, lösen sie sich auf und ich fahre durch sie hindurch. Das fühlt sich an, wie durch eine Wand zu gehen. Oft steht auch ein orange farbener übergroßer Müllwagen vor mir auf der Straße, einmal bremse ich sogar, dann löst er sich in einen Scherenschnitt eines von Bäumen umsäumten Nachthimmels auf. Es fällt mir auch immer schwerer, Kurs zu halten. Mit lautem Rufen versuche ich mir meine Klarheit zurück zu erobern.

Vor mir tauchen zwei Rücklichter auf. Und wieder eile ich hoffnungsvoll darauf zu. Etwas Gesellschaft wäre jetzt gut! Sie sind noch sehr weit weg. Manchmal verschwinden sie, dann tauchen sie wieder auf. Kurven, vermute ich. Nach einer halben Stunde werden sie größer. Ich komme immer dichter ran. Diesmal lösen sie sich nicht auf. Es ist Jos, der sich mit einem etwas angeschlagenen Belgier zusammen gespannt hat. Ich erhole mich am Ende der Gruppe und fahre dann voraus. An einer Umleitung verliere ich den Kontakt.
An einem Wehr werde ich aufgehalten. Ich muss den Fluss hier queren, finde aber keine Möglichkeit, Zäune versperren den Weg auf eine Art Containerlager. Schließlich kommt von hinten der belgische Fahrer. Er fährt über eine hinter dem Wehr gelegene gut ausgeleuchtete Brücke, die im Grunde nicht zu übersehen war.

Gegen fünf biege ich in Lommel in eine Ferienanlage ein, in der sich die zweite Bagdropzone befindet. Kerzen und Scheinwerfer weisen den Weg. Ich betrete einen gut gefüllten Raum, bekomme gleich meinen Teller Nudeln, trinke was, werde in Dusche und Schlafplatz eingewiesen, schäle mich aus meinen stinkenden Klamotten, dusche, und werfe mich so für eine Stunde ins Bett.
Sofort bin ich körperlos weg gesackt.

Um Halb sieben schlinge ich Essbares runter, was gerade vor mir liegt, schütte ein paar Tassen Kaffee nach, tape meine Verse und breche sofort in einen kühlen und bedeckten Morgen auf.
Jetzt geht‘s mir wieder gut. Die eine Stunde Schlaf hat Wunder gewirkt. Mit 30 km/h spiele ich die Stärken meines Liegers voll aus. Die letzten 140 km sollten möglich sein. Es geht immer an den Kanälen entlang Richtung Westen durch Turnhout und Antwerpen. Wenn ich bloß in Antwerpen nicht so viel Zeit verliere!
Nach einer Stunde hole ich die ersten Frühstarter ein, immer einen nach dem anderen. Es sind noch erstaunlich viele Randonneure unterwegs. Und schnelle! Ich vermute, dass sie eine ganze Nacht geschlafen haben.

Ein heftiger Landregen setzt ein. Erfrischend nach drei Tagen Gluthitze!

An der Kontrolle Turnhout kippe ich nur einen Kaffee und gehe stempeln. An den Tischen vor dem Kulturcafe sitzen vier Kollegen, zwei weitere Briten rollen vorbei. Nach einer kleinen Ewigkeit taucht Antwerpen links von mir auf, ein barbarisches Kopfsteinpflastergerappel beginnt, die Stadt ist vom Verkehr erstickt, Kleinbaustellen erfordern artistisches Geschick, in einer gerate ich in ein tiefes Schlagloch, es hebt mich aus dem Sattel, mein Vorderrad hat eine heftige Acht. Bremse öffnen, weiter.
Hinter mir ruft es „Monsieur!“ Es ist mein holländischer Kollege, den ich nun schon so oft unterwegs getroffen habe. An einer Ampel sage ich ihm, dass ich es kaum glauben kann, hier zu sein und ohne seinen Beistand in der schlimmen zweiten Nacht sicher das Handtuch geworfen hätte. Er antwortet, dass er den Eindruck auch habe.
Dave, der rasende Brite, mit dem ich die ersten 140 km zu Beginn des Brevets so unvernünftig los geturnt war, taucht auf und Ludwig, ein in London lebender Landsmann, den ich am Vortag des Starts und mit ihm Lindsey, Stephen, Rob und Dean kennen gelernt hatte, eine bunte Truppe, Individualisten, die mich herzlich, auf sehr britische Weise humorvoll ein bisschen adoptiert hatten und die ich unterwegs zu meiner Freude immer wieder traf. Bis auf Dean. Der starke Raucher und Fixifahrer war einfach von Beginn an zu schnell unterwegs gewesen!

Wir durchqueren zu viert den Sint-Anna-Tunnel, einen denkmalgeschützten Fußgängertunnel aus den 1930er Jahren und gelangen so auf die andere Scheldeseite.
Die Buchenstäbchen besetzten Stufen der Rolltreppen und der Handlauf sind nicht synchronisiert. Der Handlauf fährt voraus! Ungeübte gehen so allmählich in die Grätsche und geben, zumal mit Fahrrädern, ein groteskes Bild ab. Wir lernten es von einer jungen Frau mit Hollandrad: Vorderrad quer stellen, Handlauf nicht anfassen, so fährt sie lässig telefonierend an uns vorbei.

Raus aus der Stadt empfängt uns ein heftiger Gegenwind. 30 Kilometer ans Ziel. Ich fühle mich gut und lege einen Zahn zu.
Ich registriere, dass ich es tatsächlich schaffen kann und im Moment steigen Tränen in mir auf, die ich geistesgegenwärtig zurück schlucken kann.
Aber passieren kann mir so wieso nichts mehr. Den heiligen Randonneursgral, den Moment des Einfach-Immer-Weiter-Fahrens, am Ende meiner zweiten Brevetsaison als kräftig leuchtendes Kleinod sicher verwahrt in meinem Herzen, kurz vor dem Ziel.

Nach 15 Kilometern werde ich doch etwas müde und mir ist schwindelig. Auf einer Parkbank verzehre ich den letzten Riegel.

Von hinten kommt eine Gruppe junger Wilder auf, rauscht mit 35+ an mir vorbei, die fahren sich leer! Ich hänge mich dran. Noch schnell jede Kalorie vernichten, die sich irgendwo versteckt hält. Ohne Rücksicht springen sie über Kopfsteinpflaster, legen sich in die Kurve, nehmen sich die Führung ab, kein Gewinke, kein Windschattenfahren. Genau, was ich jetzt brauche. Bei der Einfahrt aufs Gelände springt mir die Kette ab, was soll‘s! Unspektakulär schiebe ich die letzten Meter und erreiche fast unbemerkt den Zielpunkt. Glücklich beendet! Kaum zu glauben! Was für ein Abenteuer! Mit Triumph im Gesicht gebe ich Rohnny meine Kontrollkarte, bekomme meine heiß begehrte 1000er Medaille und halte mich für einen Moment für den wichtigsten Menschen auf der Welt!

In den folgenden zwei Stunden kommen immer wieder Einzelfahrer herein, werden beklatscht und beglückwünscht.
Hier kann ich noch einmal in den Gesichtern lesen, was mich vor kurzem so stark bewegt hat: stolzes Glimmen bricht auf in glückliches Grinsen.
 
Hallo Fafnir

Toller Bericht. Mit Bagdropzone hatte ich zuerst Verständnisprobleme.

Meine Bewunderung ist dir gewiss (auch Neid, entsuldigung)

Kenne das Gefühl des Durstes ( von Marathonwanderungen )und wenn dann ein freundlicher Vibourger klares Wasser anbietet, so gut kann mir dann kein Bier schmecken!!

Beste Wünsche von Roland
 
Hallo @Fafnir ,

Guter Bericht(y)

Ich habe bei Bob 2014 auch meine Grenzen kennen gelernt.
Für die letzten 200km habe ich >10h benötigt, war da richtig am Ende.

Ich hoffe deine Achillessehne hat sich wieder erholt.
Wenn man da nicht aufpasst kann man sich schon was ramponieren.

Tschö
René
 
Zu weit weg und zu kurz.

Aber einen 300er werde ich dies Jahr nicht mehr finden :cry:
 
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