Ich hatte ja
hier versprochen, von einer "Chaostour" mit dem Langlieger zu berichten, die 1994 stattgefunden hat. Es war meine erste Radtour in dieses schöne Mittelgebirge, 2 weitere sind später gefolgt, die deutlich besser abliefen. Manchmal lernt man auch aus seinen Fehlern...
Ich könnte die Tour auch unter die Überschrift stellen:
Wer schafft es, in eigentlich mündigem und vernunftbegabtem Alter auf 80 bis 120 km Distanz mehr sträflichen Dummfug zu verzapfen?
Auch, wenn es danach klingt: Ich habe nichts übertrieben. Die Geschichte ist mir nach über 25 Jahren immer noch sehr exakt im Gedächtnis.
Leider keine Bilder.
Eckdaten:
Datum: 26.- 28.03.1994
Route: Tag 1, Freitag. Mit der Bahn von Basel bis Cernay (Südfuß der Vogesen), dann mit dem Rad auf die Route des Cretes und weiter über die Vogesenhöhen bis nahe dem Lac Noir.
Tag 2, Samstag. Ruhetag.
Tag 3, Sonntag: Lac Noir - Munster - Cernay - Sundgau - Basel.
Fahrzeug: Mega-Rad: Langlieger mit Zzipper-Frontverkleidung aus Lexan und 2 Ortliebtaschen. Mega-Rad war ein kleiner Hersteller in Augsburg, den es leider nicht lange gab. Ich hatte preiswert einen Prototypen abgegriffen. Bockschwer und bergab fing die Lenkung an zu flattern, aber Hauptsache: Es war ein Liegerad.
Lebensalter: Kurz vor dem 30 Geburtstag.
Vorgeschichte: Ich kenne das Elsass seit 1982 und habe dort viele Sommer in einem Jugendhaus im Tal von Orbey verbracht. In dieser Zeit bin ich dem herben Charme der Vogesen gründlichst verfallen. So sehr, dass ich im Dreiländereck Südbaden - Elsass - Nordwestschweiz studiert habe. Ich weiß nicht, wie oft ich mit dem Auto, dem Bus oder dem dicken Daumen dort hinauf bin.
Im Winter 1993-94 hatte ich mein Diplom in der Tasche und meine Zeit in der Schweiz ging mangels Verlängerung der studienhalben Aufenthaltsgenehmigung absehbar sehr bald zu Ende. Vorher allerdings wollte ich einmal die Route des Cretes, also die westlich des Hauptkamms verlaufende Vogesenhöhenstraße vom Südfuß der Vogesen bis zum Lac Noir mit dem im Sommer zuvor erworbenen und aufgearbeiteten Langlieger aus eigener Kraft entlangfahren.
Cartes Michelin gekauft, kopiert und mit Farbstift verschiedenste Alternativrouten eingezeichnet sowie mit dem Entfernungsmesser für Landkarten abgefahren. Damals war noch alles analog. In Erwartung des Anstiegs vom Sundgau auf den Vogesenkamm hatte ich einem Freund, der dort oben wohnte, unwesentliches Gepäck wie Schlafsack, Wechselwäsche etc. mitgegeben. Dafür hatte ich 2 Kästen mit Dias vom vergangenen Sommer dabei. Ich hatte mir entspannte Tagesstrecken von ca. 80 km Distanz vorgenommen und dafür sogar die Kröte geschluckt, mit der Bahn von Basel bis nach Cernay zu fahren.
Ortskundige Freunde, denen ich von dem Vorhaben erzählte, rieten mir immer wieder unison ab: "Täusch dich nicht: Hier unten ist schon Vorfrühling, aber da oben ist es noch sehr ungemütlich. Lass es oder fahr durchs Rheintal." "Ach was. Das sollte kein Problem sein, bin doch in Form und habe ein gutes Rad!"
Ich wusste es besser, ich kannte die Vorgesen doch wie kaum ein Anderer.- Oooder?
Der Freitagmorgenzug von Basel-St. Louis nach Cernay war ein Schülerzug und der teilverkleidete Langlieger eine Attraktion. "Sse kull, sse kull!" Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass die Schüler mir in bestem Franglais klarmachten, dass das Rad cool sei: "C´est cool!" "Ah oui, c´est cool et ca fait du grand plaisir a utiliser."
In Cernay angekommen lade ich das Rad aus und fahre bis zu einer kleinen Forststraße, die mich in Serpentinen am Westhang der Vogesen an den Grand Ballon d´Alsace heranführt. Stetiger Aufstieg, sonnig, aber nicht zu warm. Läuft doch. Ich gratuliere mir zu meiner guten Planung und Gesamtvorbereitung. Oben am Grand Ballon die Route des Cretes erreicht, quer über die Straße eine Sperre mit dem Schild "Route bloqué". Straße gesperrt. Wieso? Ist doch alles frei. Die Behörden sollen sich mit ihrem Vollkaskodenken nicht so anstellen. Echte Outdoorprofis kommen überall durch.
Erst einmal ausführlich Frühstückspause gemacht, zur Feier des erfolgreichen Aufstiegs. Ab jetzt beginnt die Genussphase der Tour. Aufs Rad und ab nach Norden. Wunderschöne, dramatische Wolken im Osten über dem Schwarzwald.
Hin und wieder etwas Restschnee auf der Strecke, den ich cool und elegant umkurve.
Etliche Kilometer und eine gute Stunde weiter: Die Sonne verkriecht sich hinter vom Osten aufziehenden Wolken, vor mir liegt etwas mehr Schnee auf der Straße, wenige Meter dahinter ist alles wieder frei. Geschoben, wieder aufs Rad gesetzt, weitergefahren. Liegerad kommt überall durch. Hinter der nächsten Kurve etwas mehr Schnee, es wird dunkler. Nieselregen, kalt. Nee, ne? Wo bin ich eigentlich? Egal, der Schnee muss doch bald wieder aufhören. Einfach weiter. Einige Kilometer weiter ist die Straße nur noch an der talseitigen Begrenzungsmauer zu erkennen, zwischen der Bergseite und der Mauer liegt solider Harsch mit einer dünnen Eisdecke, die aber weder mein Rad noch mich trägt.
Saukalt. Ich sacke mit jedem Schritt bis zu den Knien ein. Elend anstrengend. Oh, da ist eine Passabfahrt. Karte konsultiert. Nee, die lasse ich aus, es muss ja bald aufhören. Weiter. Mir begegnet ein Pärchen holländischer Touristen.- Auf Langlaufski! Ich schaffe es sogar noch, auf deren amüsierte Kommentare mit einer an ein Lächeln erinnernden Grimasse zu reagieren. Auch den nächsten Pass lasse ich aus. Das Rad schiebe ich schon längst auf der Mauerkrone entlang. Stundenlang, im quälenden Kriechtempo. Immer weiter. Und weiter. Und noch ein Schritt. Und weiter. Und noch ein Schritt. Und...
Ich.
Will.
DURCHKOMMEN!!!
Keine Lust, Ötzi II. zu werden.
Kein Fahrzeug, das so schlecht für Off-Road ist, wie ein teilverkleideter Langlieger!
Ich bin allein, ganz auf mich gestellt und kann niemanden wegen dessen Fehlern zusammenfalten. Absolute Eigenverantwortung. Wenn ich hier aufgebe, dann war´s das.
Mein Proviant ist längst aufgegessen, Durst habe ich nicht. Die Vogesen zeigen sich von ihrer unfreundlichen, harschen Seite. Es ist düster, saukalt, nass, tiefhängende Wolken, böiger Wind von Osten, der durchdringenden Nieselregen mit sich trägt. Alles tut weh. Es muss irgendwann am Nachmittag sein. Egal. Weiter.
Den kurz zuvor erworbenen, superseltenen, schönen Citroen DS-Pin an der Outdoorjacke, auf den ich so stolz war, habe ich, ohne es zu merken, irgendwo verloren. "Vergiss ihn."
Jede wenige hundert Meter lange freie Strecke wird gefeiert, wenn ich sie fahren kann. Das passiert selten. Irgendwann weicht der Schnee etwas zurück, der durchweichte, aber schneefreie Rasenhang zum Vogesenhauptkamm hin wird als Luxusstrecke bejubelt. Ich schiebe das Rad quer über den Hang nach oben. Bloß kein Harsch mehr! Ein freundlicher, aber tief ausgefahrener Landwirtschaftsweg führt mich behutsam weiter. Irgendwann erreiche ich den Col de la Schlucht.
Entscheidungsfrage: Weiter auf der Route des Cretes noch ein paar Kilometer nach Norden schieben ("Route bloqué") bis zum Col du Bonhomme, oder nach Osten Richtung Soultzeren ins Tal ab- und später wieder aufsteigen? Kostbare Höhenmeter abbrennen? Ja! Ein Königreich für geräumte Straßen.
Inzwischen bin ich so fertig, dass ich völlig automatisch fahre. Bergab, bergauf. Die letzten Kilometer ebener geräumter Asphaltweg sind ein Fest.
Am Ziel, einem urigen Jugendhaus, angekommen, erfahre ich, dass mein Schlafsack und meine Wechselwäsche nicht aufzufinden sind. Mein Freund, der sie im Auto haben sollte, ist den Abend über weggefahren. Scheissegal. Ich esse noch irgendwas, suche mir trotz Wiedersehensfreude mit Freunden und Ferienlagerbekanntschaften ("Ich erzähl Euch morgen, wie die Fahrt war.") früh ein leeres Bett, falte ein paar Wolldecken unter dem Kopf und ziehe mir eine andere Wolldecke über die restlichen müden Knochen. Ich habe noch nie zuvor und nie wieder danach so gut geschlafen.
Am nächsten Morgen verkündet ein beharrliches Knarren der unteren Extremitäten, was ich getan habe. "Eyh Martin, du gehst so mühsam. Ist irgendwas?"
Ein gutes Frühstück später, die Sonne scheint, der Tag wird schön. Die Einladung zu einer Wanderung lehne ich ab. Warum wohl? Hmmm...
Ich sehe lieber das Rad durch. Die Rückfahrt will ich wirklich genießen und ganz cool auf der linken Gesäßhälfte abreißen.
Sonntagmorgen, meine restlichen Klamotten habe ich im Auto meines Freundes wiedergefunden, es geht zurück. Ich genieße die rauschende Abfahrt, der Tag wird schön.
Den Rückweg mache ich dieses Mal erstaunlicherweise (Nee, wirklich?) durchs Rheintal, auch wieder nach Cernay. Die Liege läuft gut, ich rechne mir reelle Chancen aus, vor dem letzten Abendzug zurück nach Basel am Bahnhof anzukommen. Tatsächlich bin ich laut meiner Uhr knapp 20 Minuten vor dessen Abfahrt am Bahnhof. Der ist verdächtig leer. Die Bahnhofsuhr zeigt eine Stunde später als meine Armbanduhr.
Aaargh! Bitte!! Nicht!!!
Wieso habe ich grandioser Idiot bloß vergessen, dass dieses Wochenende auf Sommerzeit umgestellt wird?!
O.K., manchmal ist eben gesunder Fatalismus angesagt. Karte heraus, grobe Route durch den Sundgau zurechtgelegt und fahren, fahren, fahren. Der Sundgau ist unerwartet und unangenehm hügelig mit fiesen kurzen Steigungen und ich habe mehr Gepäck als auf dem Hinweg dabei. Zum zweiten Mal an diesem Wochenende komme ich an die Grenzen dessen, was ich eigentlich zu leisten vermag. Mitten im Sundgau kommt mir ein beigefarbener Mercedes Kombi mit Marburger Kennzeichen entgegen. Erstaunlich, wie viel Kraft so ein unfreiwilliger Gruß aus der Heimat zu geben vermag.
Über einer Hügelkuppe sehe ich das große, halbrunde, gelb erleuchtete Fenster eines anscheinend modernen Gebäudes. Es braucht einen Moment, bis ich begreife, dass es der aufgehende Vollmond ist.
In St. Louis über die Grenze in die Schweiz zurück, ich werde durchgewunken. Mich überholt ein Renault Espace I, der aussieht wie der eines Freundes. Ein weiterer Gruß.
In Basel will ich am Eschenplatz mein Rad ins "Drämmli" (Straßenbahn) packen, es ist längst dunkel. Eigentlich bin ich es ja gewohnt, dass meine Liege für Aufsehen sorgt, aber die Passagiere machen besonders große Augen. Als die Tür aufgeht, wird klar, warum: Im Fahrrad- / Kinderwagenabteil stehen 2 andere lange Liegeräder, nagelneu, pieksauber. Daneben sitzt das zugehörige Pärchen. Ich bin zu müde, um ihnen groß Auskunft zu geben, aber ich fühle mich mit > 120 km Tagesdistanz in den Beinen und von der Fahrt gezeichnetem Rad, Gepäck und Klamotten wie ein Weltreisender.
Am nächsten Tag fragt mich ein Freund und Studienkollege: "Weißt du eigentlich, dass es in Basel noch ein teilverkleidetes Liegerad wie Deines gibt? Sieht ganz ähnlich aus. Habe ich gestern Abend gesehen."
Ich: "Hatte der Fahrer zufällig einen weißen Helm und das Rad rote Packtaschen?
Er: "Ich glaube schon..."
Ich: "Das war ich. Du warst doch bei St. Louis in Deinem Espace unterwegs? Mensch, wieso hast Du nicht angehalten? Ich war fix und fertig!"
Nachspiel:
Gut 2 Jahre später erlitt ich unverschuldet einen extremen Autounfall. Ich war damals an der persönlichen Grenze dessen, was eigentlich überlebensfähig ist oder vielleicht schon darüber hinaus. Ich bin bis heute überzeugt, dass ich auf der beschriebenen Tour gelernt habe, wie man aus der schieren Willenskraft heraus immer weiter macht.- Selbst, wenn die körperlichen Reserven eigentlich völlig erschöpft sind. Insofern war die Tour ein verkappter Segen.