Knicklenker mit VCS (Virtual Center Steering)

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Knicklenker - ein subjektiver Überblick

Nach einigen Testfahrten mit den Urgesteinen der Knicklenker-Szene (Flevobike und Airbike), habe
ich in den 90er schon einmal ein Knicklenker-Versuch gewagt, nach dem Vorbild von Israel Urieli
Sein Grasshopper 1 erschien mir für ein reisetaugliches Liegerad ideal kompakt.
Mein damals 2x 406mm bereifter Protoyp fand dann aber sehr schnell denn Weg in den Schrottcontainer...

Jahre später stieß ich per Zufall auf den Knicklenker von Nik Vatin, einfach aber innovativ sein Fahrzeug.
Sein youtube Kanal sofabike ist sehr unterhaltsam!
Interessant sind ebenfalls die Phyton-Fahrzeuge, die Jürgen Marges eindrucksvoll dokumentiert, vielen Dank hierfür.

Mit Interesse habe ich auch Maria Parkers Langstrecken-Fahrten auf den "Knicklenkern" von Cruzbike beobachtet. Wobei der Terminus "Knicklenker" bei den Cruzbikes schon weit hergeholt ist, es handelt sich eigentlich ursprünglich um einen Rennrad-Rahmen mit angesetztem Tretlagerausleger, der beim Lenken mitschwenkt. Im amerikanischen Sprachgebrauch "moving bottom bracket" genannt.

Statt Knicklenker könnte man nun auch den engl. Begriff "center steered recumbent" verwenden...

Fragen, die sich aufdrängen

Nachdem ich diese Fahrzeuge und noch weitere (u.a. Zockra) eingehend begutachtet hatte, stellten sich mir drei Fragen:
  • sind Knicklenker (ich bleibe bei dem Begriff) auch bei hohen Geschwindigkeiten stabil (>80 km/h) ?
  • sind Knicklenker am Berg leistungsfähig (geringe Trittfrequenz, hohe Pedalkräfte) ?
  • sind Knicklenker mit geringer Sitzhöhe und grossen Laufräder möglich ?
Meiner Analyse und Einschätzung (man möge mir gerne wiedersprechen) kann keines der bisherigen Konzepte alle Fragen uneingeschränkt mit "ja" beantworten.

Knicklenker mit VCS (Virtual Center Steering)

Die tiefliegenden Phytons mit grossen Laufrädern waren mein Favorit, doch mit diesem grossen negativen Nachlauf von bis zu -300mm (=Vorlauf) konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden.
An diesem Punkt kam mir mein stillgelegtes Hecklenker-Projekt mit Längslenker-Lenkung zur Hilfe.

Würde man ein Phyton ähnliches Gerät mit Längslenkern ausstatten, könnte man eine Lenkgeometrie mit ausreichend steilem Lenkkopfwinkel und ordentlich Nachlauf erzielen, d.h. sehr stabilen Geradeauslauf auch bei hohen Geschwindigkeiten (Punkt 1 der Fragen von oben):

VCS_geometrie.jpg



Hierbei handelt es sich um eine virtuelle Lenkgeometrie (ich habe sie VCS benannt - Virtual Center Steering), mit dem "Gabeldrehpunkt" in der Momentanpol-Achse, höhrt sich vielleicht kompliziert an, ist aber einfach:

VCS_top.jpg

Dann kommen wir zu Punkt 2 der Fragen. Knicklenker drehen beim Treten in die Pedale stark zur Seite.
Könnte man den Hebel zwischen Pedalmitte und Fahrzeugmitte (unerwünschter Hebel beim Treten) verkleinern oder gar gänzlich vermeiden, wäre das Problem Berg gelöst. Dieser Hebel lässt sich verkleinern und auch vermeiden, hört sich an wie Zauberei ist aber mit der virtuellen Lenkung machbar.
Denn wenn das Pedal belastet wird, also zur Seite (zur Fahrzeugmitte) gedreht wird, bewegt sich der Momentanpol durch die gewählte Geometrie sehr schnell zum belasteten Pedal hin und der störende Hebel nimmt sehr schnell ab. In der Praxis pendelt das Vorderrad bergauf schnell hin und her (mit der Trittfrequenz) allerdings bei wirklich kleinen Amplituden.
Bei Gelegenheit werde ich hierzu ein Video machen.

Prototyp / Fahrmuster

Nachdem die Idee geboren war, musste schnell ein Fahrmuster her um dies zu überprüfen. Drei Stunden CAD und zwei Tage Werkstatt mussten reichen um den Kopf frei zu bekommen. Gebaut für 50 km, so dachte ich:

VCS_bild.jpg


Fazit

Nach mittlerweile fast 8000 km mit meinem Eisenschwein (hat immerhin über 20 kg / die 50km Idee hatte sich sehr schnell erledigt) bin ich von diesem Konzept fast überzeugt.
Fahrstabilität auch bei 90 km/h, locker bergauf trotz 20kg habe ich mittlerweile nur noch eine offene Frage:
Was macht meine schlecht trainierte Schulter- und Nacken-Muskulatur (24 Jahre Liegerad/Velomobil) auf den richtigen Langstrecken, denn die Arme haben am Lenkbügel mehr zu tun (zumindest bei mir).

Es geht weiter...
Harald Meckelburg
 
Zuletzt bearbeitet:
Was macht meine schlecht trainierte Schulter- und Nacken-Muskulatur (24 Jahre Liegerad/Velomobil) auf den richtigen Langstrecken, denn die Arme haben am Lenkbügel mehr zu tun (zumindest bei mir).
Es wäre nicht schlecht, mal ein Bild mit Dir drauf aufm Rad aus Seitenansicht zu sehen.
Aus der jetzigen Perspektive und ohne Fahrer sieht es aus, als müsstest Du Deine Arme sehr weit nach oben strecken.

Gruß
Geli
 
Das klingt nach einem genialen Konzept. Ich würde es gern mal probieren, bin aber wohl nicht groß genug.
Das Oberkörperproblem wirst Du mit anderen Lenkerformen lösen können, auch wenn das Eisenschwein dabei nicht leichter wird. Bau mal einen UDK oder einen Rennradbügel an. Ich mag den eher niedrig.
 
Lieber Harald Dir und Deiner Familie einen guten Rutsch und ein gesundes neues Jahr. Freue mich schon auf ein Update beim nächsten Stammtisch
 
8000 km ... [mit] 20 kg
Wirklich klever gelöst! Würde ich gerne probefahren.
Auf Marc Lesourd's MBB bin ich schon gesessen. Angeblich ist es 13kg (gefühlt immer noch sehr schwer). Seine Gemometrie ist im fahren so stabil, dass er ofmals sich nur am Oberrohr (welches über die Schulter geht) festhält und nur für engere Kurven den Lenker hält. Sein MBB konnte ich nicht fahren weil ich mindestens 10cm zu gross bin.

Gruss Michi
 
Hallo im neuen Jahr.

Mein Gedanke bei der Frage nach entspannter Haltung von Armen und Schultern war eine (vieleicht etwas seltsame) abänderung von UDK zu einem annähernden Untenlenker.
In deinem Fall etwa von der mitte des Vorderrades unter den Oberschenkeln außen herum, fast waagrecht oder leicht ansteigend, nach hinten am Körper vorbeizeigend.
So sollte ein Versuch bei dir sicher wenig aufwändig sein.

Es ist dann bestimmt weniger aerodynamisch, aber deine Frage war nach der Schulterentlaßtung.

Ich bin natürlich ein bequemer Untenlenkerfahrer.
Dein Projekt gefällt mir sehr gut und ich wünsche dir gutes gelingen und viel Spaß.

LG Franz
 
Hinter der Frage nach dem freihändig Fahren steht m.E. einerseits die Frage der selbststabilisierenden Geometrie des Geradeauslaufs, andererseits der Einfluß auf die Steuerung durch Gewichtsverlagerung.

Hast Du denn beim Fahren das Gefühl, das ohne Dein Lenken das Rad tendenziell ausbrechen würde, oder fährt es sich eher gutmütig?
 
Da man in vielen YouTube Videos sehen kann, wie Leute auf Flevobikes und auf klassischen MBBs (auch der sofabiker) freihändig fahren, dachte ich eher, man könne die mit den Beinen/Füßen korrigieren bzw. steuern.

Gruß
Geli
 
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ein gemütlicher Abend mit altmodischem Skizzierpapier und Bleistift sowie auch mit modernen CAD-Tools:

VCS_design-a.jpg
Farbwahl durch mein kleinstes Töchterchen, Sitzform meines Milansitzes (nach oben verlängert).
Zwei CfK-Teile mit den Längslenkern verbunden.
Mal schauen ob ich das Bauen möchte (Lust und Zeit)...

Harald
 
Zuletzt bearbeitet:
Hi Harald,

schöne Idee, es freut mich immer wieder solche Dinge im Forum zu sehen.

Auf das Video bin ich schon neugierig.

Falls für Dich OK, wäre ich auch an Deiner Dimensionierung der einzelnen Teile interessiert.

2 Dinge noch, die mir zu Deinem Projekt eingefallen sind:

Nach meiner Beobachtung lenke ich den Flevo Racer in erster Linie mit aktivem seitlichem Druck auf die Pedale (quer zur Fahrtrichtung). Eigentlich also sehr ähnlich wie mit einem normalen Lanker, nur halt eigenartigerweise mit den Füßen bedient.

Und zum Lenkverhalten des VCS :
  • Bei Deinem Konzept wirkt einerseits der Einschlag des Lenkers gleich wie beim normalen Rad:
    D.h. für eine Linkskurve wird durch einen kurzen Lenkimpuls nach rechts das Vorderrad ein wenig von der Geraden nach rechts ausgelenkt, damit das Vorderrad einen kleinen Bogen nach rechts fährt und dadurch der Rahmen nach links kippt. So bald die Schräglage nach links eingeleitet ist, wird dann passend zu Schräglage und Kurvenradius nach links eingeschlagen. Wie stark dieser erste Lenkimpuls für eine bestimmte Kurve sein muss, ist stark von der Geschwindigkeit abhängig.
  • Andererseits wandert aber bei Deinem Konzept der Momentanpol wenn Du das Rad kurz nach rechts einschlägst, ein Stück nach links. (Das Lenkkonzept läuft sozusagen ein wenig aus der Spur...) Die Auswirkung dieses Verhaltens traue ich mich auf's Erste mal nicht einzuschätzen bzw. bin ich heute vielleicht schon zu müde dafür... Es sieht mir aber jedenfalls danach aus, dass dieser Anteil kaum von der Geschwindigkeit, sondern nur vom Einschlagswinkel abhängt. Dadurch könnte ich mir ein ungewohnt anderes "Langsamfahrverhalten" vorstellen.
Gruß, Harald
 
ein gemütlicher Abend mit altmodischem Skizzierpapier und Bleistift sowie auch mit modernen CAD-Tools:

Hallo Harald, schaut schön aus!

Grundsätzlich freue ich mich natürlich immer, wenn nicht nur geredet sondern auch gehandelt wird. In der Python-Mailingliste wurde so ein "virtual steering pivot" recht häufig diskutiert und es wurden auch mindestens zwei Protypen gebaut. Wenn du im Listenarchiv http://www.freelists.org/archive/python/ nach "Vython" bzw. "virtual pivot" suchst, findest du Lesestoff für mehrere Wochen ;-)

Das Fazit der Experimente war, dass es nix bringt. Einmal war der Aufwand zu hoch. Die vielen Gelenke brachten zuviel Spiel und Gewicht rein und zum anderen bekommt man einen spürbaren "PIS = pedal induced steering" - Effekt, also genau das was bei TT-Geometrien nervt.

Aber wie gesagt, probiere es aus und berichte von deinen Erfahrungen. Irgendwas lernt man immer daraus und vielleicht ergibt sich ja was völlig Neues.

So nebenbei: Knicklenker werden aus den Schultern heraus gelenkt, d.h. achte darauf, dass der Sitz oben die Breite der Schulterblätter hat.

Schöne Grüße,
Jürgen.
 
So nebenbei: Knicklenker werden aus den Schultern heraus gelenkt, d.h. achte darauf, dass der Sitz oben die Breite der Schulterblätter hat
Das war/ist mir nicht bekannt, dabei ist mein Sitz oben nur 120mm breit und auch noch weich in der Verdrehung (n) - danke für den Hinweis.
Werde kommende Woche den Sitz versuchsweise tauschen und beobachten/erfahren.

Harald
 
Zuletzt bearbeitet:
Kannst Du mir bitte noch erklären, was eine TT-Geometrie bedeutet - Danke.

Ja gerne. Dazu erstmal diese Übersichtsgrafik der unterschiedlichen Fronttriebler-Geometrien:

Recumbent_Zoo.png

Tom Traylor (= TT) hat als einer der ersten MBB-Räder mit dieser Geometrie gebaut. Dabei geht im Unterschied zu den echten Knicklenkern die Lenkachse nicht durch die Mitte der Verbindungslinie zwischen den beiden Hüftgelenken. Das wiederum bewirkt einen Lenkeinfluss beim Treten. Cruzbike gibt das inzwischen auch zu und bewirbt das offensiv als "upper body workout", d.h. man hält mit den Armen und Oberkörper dagegen. Bei den echten Knicklenkern spürt man auch bei vollem Krafteinsatz keinen Einfluß des Tretens auf die Lenkung. Die virtuelle Lenkachse liegt leider auch neben der Hüftlinie, womit sich eine TT-Geometrie ergeben dürfte.

Schönen Gruß,
Jürgen.
 
Na dann zitier ich nicht nur Jürgen, sondern wegen der Übersicht mich selbst auch gleich dazu:
Danke Jürgen für den Hinweis, es ist sicher hilfreich sich auch dieser Funktion der Lehne bewusst zu sein.
So nebenbei: Knicklenker werden aus den Schultern heraus gelenkt, d.h. achte darauf, dass der Sitz oben die Breite der Schulterblätter hat.
Nach meiner Beobachtung lenke ich den Flevo Racer in erster Linie mit aktivem seitlichem Druck auf die Pedale (quer zur Fahrtrichtung). Eigentlich also sehr ähnlich wie mit einem normalen Lanker, nur halt eigenartigerweise mit den Füßen bedient.

Ich halte beide Beschreibungen für richtig und für im Prinzip ident.
  • Wer mit einer Schulter nach hinten drückt, drückt zum Abstützen automatisch den Fuß zur Seite.
  • Wer mit dem Fuß zur Seite drückt, stützt sich automatisch mit einer Schulter stärker auf der Lehne ab.

Der Kontakt zur Lehne hat für mich noch eine weitere wichtige Funktion:
Mit gutem Kontakt zur Lehne werden Schwingungen gedämpft, die sonst unangenehm werden.
(Gleich wie's beim Rennrad hilft bei Lenkerflattern das Oberrohr mit den Knien einzuklemmen und damit die Schwingung zu dämpfen.)

Gruß, Harald
 
Das Fazit der Experimente war, dass es nix bringt....bekommt man einen spürbaren "PIS = pedal induced steering" - Effekt, also genau das was bei TT-Geometrien nervt.


Trügt mein Eindruck, dass dieser Effekt hauptsächlich Leute stört, die center-steered Knicklenker gewohnt sind? Ich erinnere mich an einen Beitrag hier im Forum, in dem ein Flevo-Fahrer schrieb, er habe das Cruzbike auf der Messe nicht fahren können.
Im Gegensatz dazu habe ich meinen Sohn auf seinem TT-Typ schon freihändig fahren sehen, was er auf dem UP mit seinen 9 Jahren noch nicht kann. Der Pedaleinfluss scheint mir also grundsätzlich recht handhabbar zu sein, wobei das nervige daran womöglich im Auge des Betrachters liegt.

Gruß, Sebastian
 
Hier ist der Post von @Gasi , auf den ich mich oben beziehe:

... Aber ich bin auf der Messe mt dem Cruzebike gefahren und hatte trotz großer Knicklenkererfahung meine Probleme.
Dafür konnten Unerfahrene sofort ein paar Meter fahren.
Ich fand es offengesagt gar nicht toll, weil die Lenkung auf Kniehöhe ist aber das Knie nur ein Scharniergelenk ist.
...

Gruß, Sebastian
 
Trügt mein Eindruck, dass dieser Effekt hauptsächlich Leute stört, die center-steered Knicklenker gewohnt sind? Ich erinnere mich an einen Beitrag hier im Forum, in dem ein Flevo-Fahrer schrieb, er habe das Cruzbike auf der Messe nicht fahren können.
Im Gegensatz dazu habe ich meinen Sohn auf seinem TT-Typ schon freihändig fahren sehen, was er auf dem UP mit seinen 9 Jahren noch nicht kann. Der Pedaleinfluss scheint mir also grundsätzlich recht handhabbar zu sein, wobei das nervige daran womöglich im Auge des Betrachters liegt.

Gruß, Sebastian

TT-Räder sind für Anfänger viel leichter zu fahren als Knicklenker, weil die Beine und Arme mitlenken. Das ist etwa so wie bei einem Kinderdreirad. Als geübter Knicklenker-Fahrer tut man sich da erstmal schwer - diese Erfahrung kann ich bestätigen.

Gruß,
Jürgen.
 
Trügt mein Eindruck, dass dieser Effekt hauptsächlich Leute stört, die center-steered Knicklenker gewohnt sind?
Ich denke, das ist rein eine Frage der Gewöhnung.
Nach langem Fahren mit dem Flevo bin ich auf den ersten Metern mit einem normalen Untenlenker auch recht wackelig unterwegs. Das liegt aber sicher nicht daran, dass ich es nicht kann - ich muss mich halt nur wieder auf die anderen Parameter einstellen.

Konzeptuell würde mich stören, dass ein Radl, das ein
"upper body workout"
mitliefert, nicht sehr effizient sein kann. Die zum Gegenlenken eingesetzte Kraft geht ja nicht wirklich in den Antrieb ein?
Warum dann aber Kouigns und Cruzbikes auch dauerhaft schnell sind (es klingt zumindest so) ist für mich derzeit unklar. Falls es dazu Ideen gibt, wäre ich neugierig.

Gruß, Harald
 
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